DR. Gertrud Demmler über die Innovationen im Gesundheitswesen
Welche wichtigsten Vorteile sehen Sie dank innovativer Ansätze im Gesundheitsmarkt?
Innovation war und ist die Triebfeder des medizinischen Fortschritts. Das gilt für die Erfindung von Penicillin und Röntgenstrahlen genauso wie für die aktuellen Weiterentwicklungen – die es übrigens in allen Bereichen gibt, in Diagnostik, Arzneimittelversorgung und Therapie. Innovationen tragen zu einer besseren medizinischen Versorgung, längeren Lebenszeit und mehr Lebensqualität bei.
Im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen im Moment vor allem digitale Innovationen: digitale Versorgungsangebote, die uns ermöglichen zeit- und ortsunabhängig zu agieren. Telemedizinische Betreuung kann die Lebensqualität enorm verbessern und Versorgungslücken schließen. Das größte Zukunftspotenzial sehe ich bei den datengetriebenen Innovationen: Big Data und künstliche Intelligenz. Es können unglaublich große Datenmengen ausgewertet werden. Eine Zusammenführung (anonymisierter) Daten und auch Datenspenden könnten uns in der Erforschung von Krankheiten enorm weiterbringen. Gezielte Analysen individueller Daten aus dem Bereich der Biomarkeranalysen bieten Chancen in der personalisierten Medizin, z.B. bei der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Therapie. Sicher wissen wir es nicht, aber es gibt plausible Erstanwendungen, die einen neuen Möglichkeitsraum entstehen lassen, den wir bisher nicht betreten konnten.
Welches Interesse hat Ihre Organisation an solchen Lösungen?
Wir haben immer Interesse daran, Entwicklungen zu begleiten, die unseren Versicherten helfen. Das ist unsere Aufgabe als Krankenversicherung. Schließlich bieten sich große Chancen die Versorgung weiter zu verbessern. Wichtig ist mir, dass wir ein Augenmaß behalten: Innovationen einzubremsen und Bedenkenträger zu sein, ist nicht gut. Auf jeden Hype aufzuspringen und bei allem gleich dabei zu sein, aber auch nicht. Wir engagieren uns dort, wo wir sehen, dass es unseren Kunden einen wirklichen Mehrwert bringt. Beispielsweise haben wir uns sehr dafür eingesetzt, den Biomarkertest Oncotype übernehmen zu dürfen. Wir bezahlen dafür seit Jahren, obwohl es eigentlich bisher keine Leistung der GKV war. Und wir sind Mitglied beim Healthy Hub. Hier haben sich mehrere Krankenkassen zusammengeschlossen, um Start-ups aus dem Bereich der digitalen Versorgungsangebote den Weg in die GKV zu erleichtern.
Welche Vorgaben gelten bislang für den Einsatz von Innovationen in der Regelversorgung. Wie verlief der Prozess aus Ihrer Sicht?
Im Mittelpunkt steht dabei der Gemeinsame Bundesausschuss G-BA, der basierend auf den Bewertungen des IQWiG, dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, über die Aufnahme in den „Leistungskatalog der GKV“ entscheidet. Kriterien für die Aufnahme sind die Evidenz, also welchen Zusatznutzen das neue Angebot gegenüber etablierten Verfahren bietet, und die Wirtschaftlichkeit. Dieser Prozess dauert leider oft sehr lang – aus unserer Sicht auch häufig zu lang. Daneben gibt es noch den Innovationsfonds, über den die Kassen neue Angebote fördern können. Und wir können Selektivverträge abschließen, wenn wir es für sinnvoll halten. Allerdings gibt es da einen strengen Rahmen, der uns in unseren Handlungen manchmal sehr einschränkt. Überwacht wird dieser vom Bundesversicherungsamt (BVA) bzw. den Landesaufsichten der Ministerien.
Was ist/war daran unbefriedigend?
Unbefriedigend sind die langen Entscheidungswege, die aus Patientensicht nicht verständlich sind. Es ist kaum nachvollziehbar, dass Methoden bereits in medizinischen Leitlinien enthalten sind und im Ausland schon „state of the art“, aber in Deutschland noch nicht erstattet werden dürfen.
Wir brauchen hier schnellere Bewertungsverfahren – also im Grunde „Fast Track-Verfahren“ – so wie in anderen Ländern. Natürlich muss die Patientensicherheit extrem hoch gewichtet werden, aber gleichzeitig sollte die Patientenautonomie auch nicht beschnitten werden.
Hinderlich sind bei der Einführung von Innovationen auch die unterschiedlichen Interessen der Stakeholder. Innovationen können schnell Althergebrachtes in Frage stellen und dies führt an manchen Stellen zu Verunsicherung.
Aus unserer Sicht ist das Wichtigste, den Patientennutzen in den Mittelpunkt zu stellen und auch Innovationen ganzheitlich aus Patientensicht zu betrachten. Hier sehen wir langsam eine positive Entwicklung.
Wie wird diese Vorgehensweise neu aufgestellt?
Die Themen „Patientennutzen“ und „Lebensqualität“ halten zunehmend Eingang in die Bewertung von Verfahren, aber am Prozess, bzw. der Dauer der Verfahren ändert das zunächst erstmal wenig. Für digitale Versorgungsangebote bringt uns das Digitale Versorgungsgesetz (DVG) einen neuen und rechtssicheren Rahmen. Die Bewertung wird dann durch das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) durchgeführt, die innerhalb des klar vorgegebenen zeitlichen Rahmens von drei Monaten über die Aufnahme in die Versorgung entscheiden müssen. Für die Projekte, welche über den Innovationsfonds gefördert werden, muss noch geklärt werden, wie die dort pilotierten Projekte in die Regelversorgung übernommen werden können. Grundsätzlich sind das alles Schritte in die richtige Richtung, allerdings gehen sie mir nicht weit genug.
Ich finde, wir sollten damit aufhören, Innovationen im digitalen von denen im nicht-digitalen Bereich zu unterscheiden. Wichtig ist doch, dass eine Innovation eine Weiterentwicklung ist, die den Kunden weiterbringt – egal ob digital oder nicht. Ich wünsche mir überall wo sinnvoll ein Fast-Track-Verfahren für Innovationen. Nach einer ersten Abschätzung zu Patientensicherheit, Evidenz und Wirtschaftlichkeit sollten wir neue Methoden befristet zulassen, um eine Erprobung mit einer größeren Patientengruppe zu ermöglichen und sie so schneller in die Regelversorgung zu bekommen.
Wie bereiten Sie sich darauf vor?
Den Markt haben wir ja laufend im Blick – wenn es da ein interessantes Angebot gab, haben wir schon immer Verträge abgeschlossen. Zum Beispiel, damit unsere Versicherten von Oncotype oder digitalen Angeboten wie Selfapy, Tinnitracks oder Caterna profitieren. Hier ändert sich für uns nicht so viel, außer dass es hoffentlich in Zukunft nicht mehr so viele Diskussionen mit den Aufsichtsbehörden geben wird. Bei den Apps auf Rezept werden wir die Kosten übernehmen wie bei jedem anderen Heil- oder Hilfsmittel auch. Hier wird sich in der Praxis zeigen, ob ein wirklicher Kundennutzen entsteht, denn nur dann werden Kunden diese Apps auch nutzen. Viele Träume, dass die Erstattung den Marktzutritt allein lösen, halte ich für eine Blase. Nur diejenigen, die relevante Probleme aus Kundensicht adressieren und auch so umsetzen, dass Kunden sie nutzen, werden unabhängig von der Listung Ihren Weg machen.
In der täglichen Arbeit wird sich für uns in dieser Hinsicht also nicht viel ändern. Was sich im Zuge der digitalen Transformation für uns aber schon ändert, ist unsere interne Arbeitsweise. Wir arbeiten verstärkt mit neuen Techniken, haben ein iteratives Vorgehen. Customer Journeys und Design Thinking sind inzwischen etablierte Methoden bei uns – wir arbeiten mit echtem Feedback von Versicherten und authentischen Rückmeldungen aus der Versorgung, um Herausforderungen konsequent kundenzentriert zu lösen.
Bitte nennen Sie Beispiele, wie durch den neuen Rahmen Patienten und Mitarbeiter im Gesundheitswesen nun rascher profitieren werden.
Der neue Rahmen, den uns das DVG bietet, macht natürlich einiges leichter. Aus Krankenkassen-Sicht die größte Chance bieten die neuen Möglichkeiten der Datenanalysen, die das DVG uns einräumt. Wir können zukünftig anonymisiert Daten auswerten und auf dieser Basis passgenaue Angebote entwickeln, die wir dann den betroffenen Kunden anbieten. Des weiteren würde aber auch eine funktionierende und v.a. aus Kundensicht gedachte Telematikinfrastruktur durch höhere Effizienz und einen Kulturwandel die Versorgung voranbringen.
Wo sehen Sie weiterhin Hürden? Wie lassen sich diese überwinden?
Ganz konkret beim DVG sehe ich ein Problem darin, wie die Preisfindung bei den digitalen Angeboten ablaufen soll. Es ist geplant, dass zunächst die Anbieter die Preise festsetzen und dann, wenn es nach einem Jahr weitergeht, die Preisverhandlungen starten. Damit haben wir im Arzneimittelbereich keine guten Erfahrungen gemacht, die Preise im ersten Jahr sind oft vollkommen überzogen. Unser Vorschlag wäre, den dann verhandelten Preis rückwirkend geltend zu machen. Dann erhalten die Anbieter entweder eine Nachzahlung oder müssen Geld, das sie zu viel erhalten haben, zurückzahlen.
Ich bin auch gespannt, wie viele Unternehmen ihre Produkte wirklich beim BfArM listen lassen – das ist nämlich nicht ohne Risiko. Schaffen sie in dem einen Jahr nicht, die nötige Evidenz nachzuweisen, wird ihnen der Zugang in die GKV zunächst einmal gesperrt. Das müssen wir beobachten und ggf. Änderungen im Prozess anstoßen.
Ein weiterer Punkt ist die Globalisierung, die auch vor dem Gesundheitswesen nicht Halt macht. Sinnvoll ist es sicherlich, einen Blick auf internationale Standards zu werfen – sowohl bei der Telematik als auch in der Versorgung.
Welche Rolle spielen elektronische Patientendaten in dieser Angebotslandschaft, welche Voraussetzungen sind hier ausschlaggebend (z. B. Interoperabilität / dazu gesetzliche Vorgaben)?
Elektronische Patientendaten spielen eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung der Patientenautonomie. Eine strukturierte Bereitstellung der Daten in einer elektronischen Patientenakte (ePA) verschafft jedem einzelnen das nötige Wissen und die Transparenz, um eine Entscheidung zu treffen, die für ihn in seiner individuellen Situation die richtige ist.
Interoperabilität ist natürlich eine Voraussetzung, ebenso wie die Anwendung internationaler Standards und eine – sinnvolle – Definition von Datenschutz. Eine Voraussetzung für das Funktionieren möchte ich aber an dieser Stelle besonders betonen: Wir brauchen strukturierte Daten. Es ist wichtig, dass zum Beispiel in die ePA keine pdf-Dokumente hochgeladen werden, mit denen man nicht weiterarbeiten kann. Hier hoffe ich sehr, dass die angekündigten Gesetzesvorhaben im Herbst die richtigen Akzente setzen.