Eine Gesundheitsversorgung wie in Dänemark mit wenigen Großkrankenhäusern für die ambulante und stationäre Versorgung lehnt Deutschlands oberster Kassenarzt Dr. Andreas Gassen ab. Für die digitale Vernetzung ziehe der Datenschutz „natürliche Grenzen“. Die künftige elektronische Patientenakte (ePA) ergebe medizinisch nur Sinn, wenn sie arztgesteuert sei und der Patient nicht selbstständig Informationen löschen könne.
Interview: Dr. Stephan Balling
Herr Dr. Gassen, am 1. Januar 2021 soll jeder gesetzlich Krankenversicherte eine digitale elektronische Patientenakte (ePA) haben, so will es Gesundheitsminister Jens Spahn. Ist der Termin zu halten?
Unser Auftrag als Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) besteht darin, die semantische Definition der medizinischen Inhalte in der Akte zu erstellen, also die medizinischen Informationsobjekte (MIOs) zur Standardisierung von medizinischen Daten. Da werden wir den Termin sicher halten. Ich nehme an, dass die Krankenkassen ihre Pflichten und Termine ebenfalls einhalten. Ob die Patienten diese Akte wirklich in großem Ausmaß nachfragen werden, wird sich zeigen.
Bei den vielen Akten, die derzeit geplant sind, verliert man den Überblick. Wie passen die ePA der Gematik, KV Safenet und die Patientenakten von Krankenkassen, Krankenhäusern und auf regionaler Ebene zusammen?
Ich denke, es besteht ein Risiko, dass all diese Dinge am Ende nicht zusammenpassen werden. Wir werden viele Lösungen haben, die nicht kompatibel sind. Überall auf der Welt, wo es groß angelegte Patientenakten gibt, ist es bisher nicht gelungen, die Informationen zu 100 Prozent interoperabel austauschbar zu machen. Die MIOs, die wir definieren, werden zwar sicher einheitlich sein, aber was darüber hinausgeht: Ob das klappt, da bin ich wirklich gespannt.
Was bedeutet die TI konkret für KV Safenet, die elektronische Patientendatenbank der Vertragsärzte?
Wir werden prüfen, inwieweit wir KV Connect, also den datenschutzkonformen Kommunikationsdienst der KVen und der KBV, sinnvoll in die TI überführen können. Davon hängt ab, ob wir KV Safenet fortführen oder nicht.
Welche Vorteile sehen Sie für Patienten und Ärzte mit der ePA ab 2021?
Als Ärzte sind wir zurückhaltend, was die Vorteile angeht. Derzeit ist vorgesehen, dass Patienten die Gestaltungshoheit haben und entscheiden können, welche Informationen, welche Befunde sie löschen oder freigeben. Damit bleibt der Wert aus medizinischer Sicht gering. Das gilt insbesondere für die Medikation, beispielsweise wenn Patienten erst gar nicht eintragen, dass sie Psychopharmaka oder Viagra einnehmen. Medizinisch sinnvoll wäre einzig eine arztgeführte Akte.
Das Spiel „Deutschland sucht den Impfpass“ sollte aber doch mit der ePA endlich zu Ende gehen, oder?
Es wäre ein absoluter Mehrwert, Daten aus Impfpässen elektronisch verfügbar zu haben. Ich hätte mir den digitalen Impfpass aber schon auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) gewünscht. Die hat ohnehin jeder Versicherte. Leider hat die eGK eine große Chance vertan, sie hat einen so klei- nen Speicher, dass solche Informationen leider nicht darauf passen.
Die Bundesregierung sieht im Zentrum der künftigen Telematikinfrastruktur (TI) den Apotheker. Welche Rolle spielen Ärzte künftig in einem vernetzten, digitalen Gesundheitssystem? Wird der Apotheker zum Hausarzt?
Der Apotheker ist kein Arzt, sondern Apotheker.
Kann er zum Lotsen des Patienten im Gesundheitswesen werden, beispielsweise um Medikationspläne zu überwachen?
Beim Medikationsplan kann der Apotheker sicher eine Rolle spielen. Er kann aber nicht der Lotse sein, er ist schließlich nicht befähigt, medizinisch zu beurteilen, was nötig ist und was nicht. Es wäre fatal, wenn jemand im Krankheitsfall die Steuerung übernimmt, der keine Ahnung von Medizin hat. Das hätte ja eher was von Zufallskomik.
Wo stehen die niedergelassenen Ärzte bei der Anbindung an die Telematikinfrastruktur (TI)? Welche Schwierigkeiten sehen Sie bei der Verankerung der ePA, was raten Sie Ihren Kollegen?
Der Großteil der Praxen hat einen Konnektor und ist an die TI angeschlossen, trotz einiger technischer Schwierigkeiten. Aus der Erfahrung in meiner eigenen Praxis kann ich berichten, dass der Konnektor ganz überwiegend funktioniert, es gibt vereinzelt technische Ausfälle, aber die wird es in einem technischen System wohl immer mal geben.
Was bringt der Anschluss an die TI bisher?
Bisher noch wenig, eigentlich läuft darüber nur der Abgleich der Versichertenstammdaten.
Ist der Anschluss an die TI sicher?
Der Konnektor an sich ja, aber er allein macht die Daten in einer Praxis weder sicher noch unsicher. Die Praxen stehen in der Verantwortung, dass sie ihre Praxisdaten schützen müssen, sobald sie ans Internet angeschlossen sind. Das wurde leider nicht klar genug von der Gematik kommuniziert. Man kann nicht erwarten, dass Ärzte sich in Details der Datensicherheit auskennen, sonst wären sie Informatiker geworden und keine Ärzte. Wenn der Gesetzgeber fordert, dass sich alle Praxen anschließen, dann müsste er die Ärzte dabei proaktiv begleiten.
Ist das nicht vielleicht auch Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen)?
Die KVen haben die TI ja nicht etabliert und sie sind keine Softwarehäuser.
Warum sind die Ärzte in Deutschland eigentlich so skeptisch, was die Digitalisierung des Gesundheitswesens betrifft?
Der Großteil der Ärzte sieht selbstverständlich die Vorteile und ist bereit, auf digitale Werkzeuge zu setzen. Aber es herrscht die Sorge, dass damit beispielsweise Haftungsrisiken einhergehen. Zugleich müssen die Praxen in Sicherheitsvorkehrungen investieren, erhalten dafür aber keine Vergütung. Von der Gematik verlange ich deshalb eine klare Folgeabschätzung mit klaren Vorgaben und einem Leitfaden, wer für was verantwortlich ist und welche konkreten Pflichten hat. Außerdem ist uns der Schutz der Patienten- daten enorm wichtig.
Ist die klassische Einzelpraxis im digitalen Zeitalter vielleicht auch einfach technisch überfordert, sodass wir einen Konzentrationsprozess im ambulanten Sektor benötigen?
In Ihrer Frage sehe ich den Schwanz mit dem Hund wedeln. Es kann doch nicht sein, dass jetzt Ärzte und Patienten digitalisierungsfähig gestaltet werden. Wenn Digitalisierung Akzeptanz bei Patienten und Ärzten finden soll, dann muss sie dienen, und nicht umgekehrt. Digitale Lösungen müssen so zugeschnitten werden, dass sie für die bestehenden Strukturen passen.
Aber wachsen nicht längst andere Strukturen, Stichwort Medizinische Versorgungszentren (MVZ)?
Wir haben in Deutschland 3.000 MVZ und 170.000 Arztpraxen. Die Versorgung findet also nicht in irgendwelchen Zentren statt mit eigenen Datenschutzbeauftragten und IT-Experten, sondern in kleinen und mittleren Betrieben, in Praxen mit ein oder zwei Ärzten und einigen Arzthelfern. Es kann nicht sein, dass sofort als innovationsfeindlich gilt, wer Digitalisierung an einigen Punkten kritisch hinterfragt. Jeder, der täglich ein Smartphone bedient, hinterfragt Digitalisierung doch ständig, weil viele Anwendungen schlicht nicht funktionieren.
Wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass elektronische Patientenakten, Telemedizin und andere innovative Anwendungen im Sinne der Patienten sind, aber die gegenwärtigen Strukturen dazu nicht passen, sollten die Strukturen doch verändert werden, dann muss die Einzelpraxis in ihrer Existenz doch hinterfragt werden, oder?
Das kann man in letzter Konsequenz für die denkbar extremste Ausbaustufe vielleicht so sehen. Aber am Ende gilt: Wenn alle digitalen Gesundheitsanwendungen auf einem Sicherheitskonzept nach den Standards des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) basieren sollen, wenn Arztpraxen BSI-konform sein sollen, dann stoßen die Möglichkeiten der Vernetzung an ihre Grenzen, egal ob im Krankenhaus, im MVZ oder in der Arztpraxis. BSI-Konformität der Arztpraxen und die Übertragung der Gesundheitsdaten beispielsweise aus Wearables wie Smartwatches in die ePA wird es so nicht geben. Wir haben in Deutschland sehr hohe Ansprüche an die Datensicherheit, was ich gut finde. Damit gibt es aber natürliche Grenzen für den Datenaustausch. In Skandinavien gelingt vielleicht eine bessere Vernetzung, dort sind aber ohnehin sämtliche Daten zugänglich.
Sehen Sie nicht, dass Deutschland mit der ePA für 72 Millionen Versicherte digitaler Vorreiter werden kann?
Das große Ziel der Gematik mit der ePA lautet in der Tat, etwas aufzubauen, was es in der Welt nirgendwo gibt, nämlich die 72 Millionen Versicherten, 170.000 Arztpraxen und viele Millionen Angehörige von Gesundheitsberufen zu vernetzen. Das kann aber nur funktionieren, indem die Dinge bis in die letzte Versorgungsstufe passend gemacht werden. Wir sprechen viel über Arztpraxen, aber zu einer vernetzten Patientenakte gehört zum Beispiel die Pflege, gehören die Physiotherapeuten und alle weiteren Gesundheitsberufe mit dazu. Ein ambulanter Pflegedienst mit drei Autos ist ja technisch keinesfalls besser ausgestattet als eine Arztpraxis. Wenn die Praxen schon Schwierigkeiten haben, dann kommen kleine Pflegedienste gar nicht mehr mit. Die Lösungen müssen endverbrauchergerecht gestaltet werden. Da ist die Gematik gefordert.
Gerade Dänemark mit seinem starken Zentralisierungsprozess – Stichwort Krankenhausstandorte – gilt vielfach als Vorbild. Kann der skandinavische Weg nicht doch Vorbild für Deutschland sein?
Ich sehe nicht, dass es absehbar einen gesellschaftlichen Wunsch in Deutschland geben wird, Strukturen wie in Dänemark zu schaffen, also anstelle der bestehenden Strukturen zentral eine geringe Zahl von Krankenhäusern für die ambulante und stationäre Versorgung der Bevölkerung zu planen und aufzubauen. Das wäre dann auch nicht mehr mein Land.
Weshalb sind Sie so kritisch, was das Beispiel Dänemark betrifft?
Die Praxisstruktur in Deutschland hat sich über viele Jahre und Jahrzehnte als effizient erwiesen. Manchmal wirkt die Diskussion über die Gesundheitsversorgung in Deutschland so, als stünden wir auf der Stufe eines Schwellenlandes. Das ist aber doch nicht der Fall. Die medizinische Versorgung ist kaum irgendwo besser als in Deutschland, vielleicht abgesehen von der Schweiz.
Also soll sich am besten nichts ändern?
Selbstverständlich müssen wir uns zukunftsfest aufstellen, und selbstverständlich ist einem so hoch innovativen Bereich wie der Medizin die Digitalisierung vielfach eine logische Konsequenz, alles andere ist Unsinn. Die Frage lautet aber doch: Muss sich nun alles der Digitalisierung unterordnen oder müssen digitale Anwendungen ihre Nische in der Versorgung finden?
Was passiert, wenn ein Konzern wie Google oder Amazon offensiv ins deutsche Gesundheitswesen vorstößt, indem es zum Beispiel eine private Krankenhauskette übernimmt, und dann Patienten im Austausch gegen deren Daten die vernetzte digitale Rundumversorgung anbietet, von Chefarztbehandlung bis ambulante telemedizinische Versorgung?
Das ist sicher denkbar. Wir haben ja bereits Finanzinvestoren und Konzerne im Gesundheitswesen. Die Vorstellung mancher Politiker, sie könnten diese Marktkräfte beherrschen, wird sich als Trugschluss erweisen.
An welche Bereiche denken Sie da konkret?
Es gibt Bereiche, die längst nicht mehr in der Hand von Vertragsärzten sind, sondern in der Hand von Konzernen, etwa weite Teile der Nephrologie, die interventionelle Kardiologie oder die Zahnmedizin. Wenn ein Geschäftsfeld skalierbar ist, dann ist das interessant für solche Unternehmen. Man stelle sich aber mal vor, dass ein Versorgungsstrang wie die Nephrologie in der Hand eines einzigen Konzerns liegt, der neben den Spüllösungen die Geräte, das Personal und letztlich die Krankenhäuser bereitstellt. Wie will die Politik mit diesem Marktakteur über Preise verhandeln? So ein Konzern wird einen Preis nennen, und wenn die Politik diesen nicht zahlen will, dann wird der drohen, die Versorgung von Dialysepatienten einzustellen.
Sie zeigen viel Skepsis, was digitale Innovationen angeht. Weshalb eigentlich?
Ich sehe viele spannende Möglichkeiten. Ich kann mir gut vorstellen, dass es Wearables für Diabetiker gibt, die mit zertifizierten Medizinprodukten verbunden sind, um die Blutzuckerwerte zu kontrollieren und daraus die optimale Insulininjektion zu berechnen. So lassen sich vielleicht sogar Praxisbesuche reduzieren. Wir müssen nicht die Medizin digitalisierungsfähig machen, sondern die Digitalisierung medizinfähig.
Dr. Andreas Gassen ist seit knapp sechs Jahren Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), die zusammen mit den 17 regionalenKassenärztlichen Vereinigungen (KVen) die ambulante vertragsärztliche Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland organisiert. Gassen, selbst praktizierender Orthopäde mit eigener Praxis in Düsseldorf, ist in der KBV verantwortlich für die Fachärzte.
Abkürzungen
BSI Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik
eGK Elektronische Gesundheitskarte
ePA Elektronische Patientenakte
KBV Kassenärztliche Bundesvereinigung
MIOs Medizinische Informationsobjekte
MVZ Medizinische Versorgungszentren