Von Dr. Stephan Balling
Ein Essay über die längst fällige, nächste große Revolution.
Zu oft starren Führungskräfte der Wirtschaft, nicht anders als die Politik, auf das gegenwärtige Marktumfeld und schreiben schlicht bestehende Trends fort, anstatt in disruptiven Szenarien zu denken. „Wir müssen kein neues Geschäftsmodell suchen, sondern das bewährte in die Zukunft führen“, lautet beispielsweise die Devise, die der neue BMW-Chef Oliver Zipse vor wenigen Wochen ausgab, die Parole lautet „zurück zu den Wurzeln“. Möglichst viele, teure und große Autos soll der Münchner Autoproduzent in der Welt verkaufen, so lauten laut „Businessinsider“ die Pläne BMWs für das 21. Jahrhundert. Nicht anders die Erkenntnis bei Volkswagen: „Das einzige Geschäftsmodell, das wirklich funktioniert, ist Autos zu verkaufen“, sagte jüngst ausgerechnet Robert Henrich, der Chef des Mobilitätsservices von VW. Unter der Marke Moia bieten die Wolfsburger in Hamburg einen Ridesharing-Service an: Elektrische Moia-Busse bringen Fahrgäste wie Taxis von einem Punkt zum anderen. Unterwegs sollen sie weitere Passagiere aufnehmen, ein Konzept also ähnlich UberPool. In Kalifornien ist es verbreitet, einen Wagen mit anderen Fahrgästen zu teilen, die Uber-App lotst den Fahrer entsprechend.
Wer aber sägt schon gerne an dem Ast, auf dem er sitzt? Volkswagen verkauft die Hälfte seiner Autos nach China. Vor allem Stadtgeländewagen (SUV) sind dort gefragt. Doch der Ast wird absterben. 2025, so will es die Kommunistische Partei, soll jeder vierte Neuwagen elektrisch fahren, schrieb die Nachrichtenagentur Reuters Anfang Dezember. Bereits 2018 stiegen demnach die Verkäufe von Autos mit alternativen Antrieben um 62 Prozent an, während der Gesamtabsatz von Pkw um 2,8 Prozent schrumpfte. Haben deutsche Manager wirklich ausreichend Drive, wenn es um die Eroberung künftiger Geschäftsmodelle geht? Kommt ihre E-Auto-Offensive nicht zu spät? Verstehen sie, dass emissionsfreie und vor allem autonom fahrende Autos für eine neue Einstellung der User sorgen: statt Freude am Fahren Spaß am vernetzten EntertainmentProgramm des Touchscreens im Auto.
Der internationale Wettbewerb im globalisierten 21. Jahrhundert wird rauer, die Digitalisierung wirbelt das Kräfteverhältnis durcheinander, dazu kommt die Herausforderung des Klimaschutzes. Beide Entwicklungen werden der deutschen Volkswirtschaft in den 2020er-Jahren einen Strukturwandel bescheren, wie es ihn seit Beginn der Industrialisierung nicht gegeben hat. Nicht nur einzelne Regionen werden betroffen sein, wie es beim Wandel in den Regionen der Montanindustrie, Kohle und Stahl, seit den 1970er-Jahren der Fall war. Digitalisierung, Biotechnolgoie und Klimaschtz stellen die gesamte Volkswirtschaft vor eine gewaltige Transformationsaufgabe.
Das führt über die Frage hinaus, ob und wie Deutschland insgesamt technologisch Anschluss halten und zumindest auf einigen Feldern führend bleiben kann. Es stellt sich eine neue soziale Frage. Der SPD-Parteitag Anfang Dezember 2019 stand in diesem Zeichen. Die damals gerade neu gewählte Vorsitzende Saskia Esken, selbst staatlich geprüfte Informatikerin mit langjähriger Arbeitserfahrung als Programmiererin, wie sie den Parteitagsdelegierten berichtete, machte das in ihrer Rede deutlich. „Die größte Herausforderung der nächsten Jahre ist offensichtlich: unsere Werte, unsere soziale Marktwirtschaft ins digitale Zeitalter zu überführen“, rief sie ihren Genossen zu. Es gelte, den Sozialstaat fürs 21. Jahrhundert zu gestalten. Esken versprach mehr Umverteilung, eine höhere vom Staat gewährleistete wirtschaftliche Sicherheit angesichts der digitalen Arbeitswelt. Die Antwort auf die Frage, wie Deutschland überhaupt technologisch führend oder zumindest anschlussfähig bleiben kann, blieb sie leider schuldig. Sicher, den Sozialstaat gilt es angesichts der Transformation neu aufzustellen.
Aber das alleine wird die soziale Frage nicht lösen. Auch hier sind zuvorderst Unternehmer und Manager gefragt. Sie müssen dafür sorgen, dass ihre Organisationen, dass ihre Mitarbeiter fit bleiben oder werden für die Transformation, die Digitalisierung und Biotechnologie auslösen. Lebenslanges Lernen, nicht nur für Personen, sondern auch für Organisationen, wird der entscheidende Wettbewerbsfaktor, der richtige Corporate-Learning-Ansatz zur fundamentalen Strategiefrage. Wer lernt, gewinnt. „Die Lerngeschwindigkeit entscheidet mehr als das Quartalsergebnis“, hat der ehemalige IBM-Manager Gunther Dueck in der Erstausgabe von „Transformation Leader“ dazu treffend formuliert.
„Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten“, lautete der Schlachtruf von Karl Marx. In Deutschland stimmt das nicht. Dank des liberalen Ordnungsrahmens der sozialen Marktwirtschaft verbunden mit den sozialdemokratischen Bildungsreformen der 1970er-Jahre und dem Sozialstaat haben Arbeitnehmer oftmals Eigentum, Einkommen, gesellschaftliche Stellung und soziale Sicherheit zu verlieren, deswegen steht eine Revolution der Arbeit gegen das Kapital nicht an. Doch bei diesem Frieden – vielleicht ist es auch nur ein lang anhaltender Waffenstillstand – bleibt es nur, wenn der Fortschritt nicht zulasten weiter Teile der Arbeitnehmer geht, die Transformation auch künftig großflächig Teilhabe zulässt. Sicher, Wandel sorgt immer für Verlierer. Aber Manager und Führungskräfte tragen eine wesentliche Mitverantwortung, damit möglichst viele nicht verlieren, sondern sich am Ende als Gewinner sehen.
Diese Verantwortung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt tragen insbesondere die Führungskräfte im sozialen Sektor. Predictive Care, 3-D-Druck, virtuelle Medizin und Gentherapie erfordern einen fundamentalen Umbau des Gesundheitswesens und der dazugehörigen Industrien. Sicher, das deutsche Gesundheitswesen ist hoch reguliert, Krankenhäuser etwa agieren in einem engen Korsett. Aber sie haben Handlungsspielraum und die Frage muss erlaubt sein, ob sie diesen nutzen, um Effizienzgewinne zu heben. Oder sehen sie sich als bloße Sozialgesetzbuch-5-Verwalter? Nur ein produktives, wirtschaftlich gesundes System wird in der Transformation global mithalten können und zugleich das Leistungsversprechen einhalten können, jedem Bürger die bestmögliche Medizin anheimkommen zu lassen.
So wird die künftige Medizin im Team stattfinden, in „Teams von Teams“, wie Prof. Dr. Young, Chefwissenschaftler der renommierten Cleveland Clinic, im Interview sagt. Warum eigentlich machen sich Krankenhäuser nur vereinzelt von selbst auf den Weg und führen Akademikerquoten in der Pflege ein, also internationalen Standard, mit dem Ziel, dass sich Pflege und Ärzte auf Augenhöhe begegnen, dass wahre interprofessionelle Teams entstehen?
Das Warten auf die Politik wird angesichts der Schnelligkeit des 21. Jahrhunderts und der immer kürzeren Innovationszyklen gefährlich für das Land, seine Unternehmen und den sozialen Zusammenhalt. Amerikas IT-Konzerne sind schon daran, die Welt mit einer neuen Innovation zu verändern: Sie wollen dem Quantencomputer zum großflächigen Durchbruch verhelfen. Wird es auch deutsche Unternehmen geben, die hier mitmischen? Oder droht erneut das Huawei-Dilemma?
- Teil 1: Die überforderte Politik
- Teil 2: Nur wer in Ökosystemen und Wertschöpfungsketten denkt, besteht im Wettbewerb
- Teil 3: Die neue soziale Frage im schnellen 21. Jahrhundert