Dank digitaler Pflegedokumentation haben Pflegekräfte im Lukaskrankenhaus Neuss durchschnittlich 50 Minuten mehr Zeit für einen Patienten. Trotz des mittlerweile berühmten Hackerangriffs im Jahr 2016 setzt die Klinik weiter auf Digitalisierung, gepaart mit höchsten Ansprüchen an die Cybersicherheit.
Von Martin Lechtape
Das Bild in deutschen Krankenhäusern ist oft dasselbe: Ärzte und Pfleger hasten über die Gänge, von einem Patienten zum nächsten. Kranken und ihren Angehörigen in schwierigen Situationen beistehen – dafür ist meist keine Zeit. „Pfleger in deutschen Krankenhäusern sind heute mehr mit der Dokumentation beschäftigt als mit dem direkten Kontakt zu Patienten“, sagt Nicolas Krämer, Geschäftsführer des Lukaskrankenhauses in Neuss. Das Lukaskrankenhaus geht deswegen seit einiger Zeit einen anderen Weg – einen digitalen. Kommen Patienten im Krankenhaus an, werden alle Daten in einer Software erfasst. Alles was Patienten vom Anmeldebogen kennen, wandert direkt ins System: Name, Geburtsdatum, eingenommene Medikamente, bekannte Unverträglichkeiten und vieles mehr. Nach den ersten Untersuchungen kommen alle medizinisch relevanten Daten hinzu.
Auch die Nachsorge der Patienten organisiert das Lukaskrankenhaus digital. Um den Übergang zu beschleunigen, startete das Lukaskrankenhaus im Frühjahr ein Pilotprojekt mit zwei Berliner Start-ups, der Vermittlungsplattform Recare und dem Softwarehersteller nursIT Institute: Zwei Stationen des Krankenhauses wurden an die digitale Recare-Plattform angeschlossen, auf der 1.380 Pflegedienste rund um Neuss angemeldet sind. So mussten die Pflegerinnen und Pfleger nicht mehr stundenlang telefonieren, um eine passende Nachversorgung zu organisieren, sondern konnten pflegebedürftige Patienten innerhalb eines Tages an einen ambulanten Dienst oder eine stationäre Einrichtung vermitteln: Krankenhausmitarbeiter erstellen anonymisierte Patientenprofile, in denen alle relevante Daten eines Patienten gespeichert werden. Mit einem Klick sucht der Algorithmus der Plattform einen passenden Pflegedienst aus und schreibt diesen per Mail an. Nimmt der Pflegedienst die Anfrage an, kann er die Details der Pflege mit den Krankenhausmitarbeitern über verschlüsselte Nachrichten austauschen. Die Dokumentation wurde digitalisiert, aufwändiger Papierkram fiel weg. Dazu stellte das Start-up nursIT Institute seine Software zur Pflegedokumentation zur Verfügung, die alle Krankendaten des Patienten speichert. „Im Schnitt bleiben 50 Minuten mehr Zeit für die Betreuung eines Patienten“, sagt Christian Heitmann, Partner bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Curacon in Münster. Er hat das Lukaskrankenhaus bei dem Projekt beraten und den Kontakt zu den Start-ups hergestellt. „Ich wusste, dass das Lukaskrankenhaus technisch schon sehr weit ist“, so Heitmann. Da war der Weg ins digitale Zeitalter nicht mehr weit. Als der Curacon-Geschäftsführer von den Ideen der Berliner Start-ups erfuhr, schlug er sofort die Brücke nach Neuss und ermöglichte so eine erfolgreiche Zusammenarbeit für beide Seiten: Die Start-ups konnten ihre Produkte im Klinikalltag testen und das Lukaskrankenhaus eigene Prozesse optimieren und papierlose Stationen ermöglichen.
Das Lukaskrankenhaus gilt darum als digitaler Pionier unter den deutschen Krankenhäusern. Vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut wurde die Klinik im Jahr 2019 zum „Digital Champion“ gekürt. Schon seit dem Jahr 2012 dokumentieren Ärzte mit Tablets den Zustand ihrer Patienten, überprüfen das Blutbild und Laborwerte, bestellen Medikamente, machen Fotos von Wunden und speichern die Daten im zentralen Krankenhausinformationssystem. Lästige Zwischendokumentation mit Stift und Papier bleibt den Ärzten erspart und sie haben mehr Zeit für Patienten. Mit Fotos und Röntgenaufnahmen können die Mediziner ihre Erklärungen direkt am Patientenbett veranschaulichen. „Patienten müssen auch nicht mehr die unleserliche Handschrift des Arztes entziffern“, sagt Krämer. Auch das Krankenhaus profitiert von der Visite 2.0: Bevor die Tablets eingeführt wurden, vergingen 19 Tage, bis das Lukaskrankenhaus die Behandlung eines entlassenen Patienten abgerechnet hatte. Mit dem neuen Tool sind es nun nur noch neun Tage. Forderungen können schneller in Geld umgewandelt werden.
„SCHON SEIT DEM JAHR 2012 DOKUMENTIEREN ÄRZTE MIT TABLETS DEN ZUSTAND IHRER PATIENTEN … UND SPEICHERN DIE DATEN IM ZENTRALEN KRANKENHAUSINFORMATIONSSYSTEM.“
Auch bei der Suche nach Fachkräften seien die Tablets manchmal ein ausschlaggebender Faktor, so Krämer. Bei einer Umfrage der Unternehmensberatung Schubert gaben 71 Prozent der befragten Nachwuchsmediziner an, dass die Ausstattung der Räume und die Technik die Attraktivität eines Krankenhauses als Arbeitgeber steigere. Selbst die 18 Rettungswagen des Lukaskrankenhauses sind digital: Telemetrische EKG-Geräte senden bei einem Herzinfarkt die vitalen Daten des Patienten schon während der Fahrt ins Krankenhaus. So können sich die Mediziner besser auf den einfahrenden Fall vorbereiten. Die Sterblichkeit von Notfallpatienten ist nach Angaben der Klinik seither um 23 Prozent gesunken. Nächstes Jahr will sich das Krankenhaus einen OP-Roboter kaufen. Für ungefähr zwei Millionen Euro. „Der Da Vinci arbeitet deutlich präziser und zuverlässiger als die menschliche Hand“, sagt Krämer. Nach der minimalinvasiven Technologie sei das der nächste große Schritt in der Operationstechnik, so Krämer. Seine Schilderung klingt fast zu schön, um wahr zu sein: Ein bisschen Digitalisierung und schon bleibt mehr Zeit für die Patienten, weniger Menschen sterben an Herzinfarkten und die Einnahmen des Krankenhauses sprudeln. In der Realität zeigt sich: Der digitale Weg des Lukaskrankenhauses ist riskant. Am 10. Februar 2016 griffen Hacker das IT-Netzwerk des Krankenhauses an. Bundesweit machte die Attacke Schlagzeilen. Über einen infizierten E-Mail-Anhang hatte sich ein Trojaner in kürzester Zeit durch das System gefressen und alle Dateien verschlüsselt. Plötzlich konnte kein Arzt mehr auf Patientenakten zugreifen, alle digitalen Informationen waren für das Krankenhauspersonal unerreichbar. Im hoch digitalisierten Krankenaus kramte das Personal wieder den Stift hervor und dokumentierte Befunde in der Notaufnahme auf Zetteln, akute Notfälle wurden an andere Krankenhäuser verwiesen, Operationen teilweise verschoben. Krebspatienten bekamen keine Strahlentherapien mehr, weil die Steuerungseinheit nicht funktionierte. Die Hacker forderten vom Lukaskrankenhaus Geld in Form von Bitcoins. Im Gegenzug würde man die Daten wieder freigeben. Krämers Devise war eindeutig: „Wir lassen uns nicht erpressen.“ Auf die Forderungen einzugehen, sei daher keine Option gewesen.
Nach vier Tagen gelang es der IT-Abteilung, LKA-Beamten und externen Beratern, den Trojaner im Lukaskrankenhaus zu schlagen. Patientendaten wurden nach Angaben des Krankenhauses nicht geklaut und es kamen keine Menschen zuschaden.
Dass Krämer so offen mit dem Hackerangriff auf sein Unternehmen umgeht, ist nicht selbstverständlich. Er ist einer der wenigen Manager in Deutschland, der offen darüber spricht. Dabei waren schätzungsweise drei Viertel der Unternehmen in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren schon von einer Cyberattacke betroffen. Das ist das Ergebnis einer Studie des Digitalverbands Bitkom, für die mehr als 1.000 Geschäftsführer und Sicherheitsverantwortliche anonym befragt wurden. Mehr als 100 Milliarden Euro Schaden jährlich sollen der deutschen Wirtschaft durch Sabotage, Datendiebstahl oder Spionage entstehen. Die große Mehrheit der betroffenen Unternehmen schweigt zu den Angriffen. „Viele Krankenhäuser fürchten einen Reputationsschaden“, sagt Heitmann von Curacon. Dabei sei der Schaden viel größer, wenn ein Hackerangriff später, etwa durch die Medien aufgedeckt würde. Heitmann empfiehlt daher, wie das Lukaskrankenhaus, von Anfang an transparent mit einem Hackerangriff umzugehen. „Für viele Krankenhäuser ist das Thema IT-Sicherheit absolutes Neuland, sie wurden von der Entwicklung einfach überrollt.“
Krämer vom Lukaskrankenhaus ist deswegen ein gefragter Redner in seiner Branche. Auf Konferenzen berichtet er seinen Kollegen und Experten vom Hackerangriff im Lukaskrankenhaus. Dabei empfiehlt er, vor allem die Mitarbeiter für die Gefahr aus dem Netz zu sensibilisieren. Denn die größte Gefahr gehe von der Belegschaft aus. „Das Gegenteil von künstlicher Intelligenz ist menschliche Dummheit“, sagt Krämer.
„MASCHINEN WERDEN DEN ARZT DER ZUKUNFT NOCH MEHR UNTERSTÜTZEN, VOR ALLEM IN DER VERWALTUNG. ERSETZEN WERDEN SIE IHN ABER NICHT.“
Deshalb muss jeder Mitarbeiter im Lukaskrankenhaus einen Onlinetest zum Thema Cybersicherheit bestehen. „Sollte es im IT-System trotzdem noch Schwachstellen geben, werden diese durch simulierte Angriffe von beauftragten Hackern identifiziert“, sagt Krämer. Laut dem Geschäftsführer investierte das Lukaskrankenhaus in den vergangenen zwei Jahren 13 Prozent beziehungsweise 18 Prozent seiner Fördermittel in IT-Sicherheit. Ein durchschnittliches Krankenhaus in Deutschland gab laut einer Studie des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) gerade einmal 9,4 Prozent seiner Mittel für IT aus. Bei vielen Krankenhäusern fehle es schon an einer grundsätzlichen IT-Infrastruktur, sagt Heitmann. „Die allermeisten Krankenhäuser schreiben ihre Patientenakten immer noch auf Papier“, sagt der Curacon-Geschäftsführer Heitmann. Er gehe jedoch davon aus, dass sich das in Zukunft ändern werde, und sagt: „Immer mehr Patienten fordern von den Krankenhäusern mehr digitalen Komfort.“ Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov halten 82 Prozent der befragten gesetzlich Krankenversicherten eine digitale Gesundheitsakte für sinnvoll. „Im Flugzeug, im Zug – überall können Menschen digital einchecken. Nur im Krankenhaus bekommen die Menschen noch eine Einweisung auf Papier.“ Das würden gerade jüngere Menschen nicht mehr verstehen. Auch die Politik macht den deutschen Krankenhäusern Druck: Bis zum Jahr 2021 soll jeder Bürger eine elektronische Patientenakte (ePA) haben. So steht es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. „Die digitale Patientenakte ist der erste Schritt, um den Krankenhausbetrieb zu digitalisieren“, sagt Heitmann. Werden Patienten dann in Zukunft nur noch von Maschinen behandelt? Krämer widerspricht. „Der Mensch im Krankenhaus kann niemals durch eine Software ersetzt werden.“ Letztendlich würden Ärzte die meisten Krankheiten immer noch von Mensch zu Mensch heilen, so Krämer. Für ihn ist klar: Maschinen werden den Arzt der Zukunft noch mehr unterstützen, vor allem in der Verwaltung. Ersetzen werden sie ihn aber nicht.