Microsoft, Amazon und Co. investieren Milliarden in KI-Lösungen im Gesundheitsbereich. Bei ihrer riesige Nutzerbasis und üppigen Cash-Reserven können US-Konkurrenten kaum mithalten. Doch neue Gesetze könnten auch ihnen das Leben schwerer machen.
Von Astrid Dörner, Handelsblatt-Korrespondentin New York
Mark Zuckerberg steht seit Monaten in der Kritik wegen der Flut an Falschinformationen, die Nutzer in seinem sozialen Netzwerk Facebook veröffentlichen – gerade mit Blick auf die Pandemie. Während dieses Geschehen auf der Internetplattform Ärzten den Alltag mitunter erschwert, arbeitet eine Facebook-Tochter daran, ihnen das Leben zu erleichtern: Die wenig bekannte Research-Abteilung für künstliche Intelligenz (KI) hat gemeinsam mit Ärzten des New Yorker Krankenhauses NYU Langone Modelle entwickelt, um Covid-Patienten besser behandeln und Ressourcen genauer planen zu können. Die Modelle können anhand von Röntgenbildern der Lunge vorhersagen, ob sich der Krankheitsverlauf verschlechtern und ein Patient Sauerstoff benötigen wird. Dazu wurde ein KI-System mit zwei Datensätzen gefüttert: mit Röntgenbildern von Covid-Patienten und Röntgenbildern von Patienten ohne Covid. Facebooks KI hat daraus selbstständig Muster abgeleitet und Vorhersagen erstellt. Die Software ist mittlerweile öffentlich verfügbar, sodass auch andere Krankenhäuser auf die Algorithmen zugreifen können.
Facebook arbeitet auch an weiteren KI-Lösungen im Gesundheitsbereich. Zusammen mit Ärzten des New Yorker Krankenhauses hat das Tech-Unternehmen eine KI-unterstützte Software für Knie-MRTs entwickelt. Und gemeinsam mit dem Helmholtz Zentrum München ist eine neue Methode entstanden, mit der die Entdeckung neuer Arzneimittelkombinationen beschleunigt werden soll. Auch an anderer Stelle ist Mark Zuckerbergs Unternehmen im Gesundheitsbereich aktiv: So wird beispielsweise Facebooks Virtual-Reality-Brille Occulus in den USA bereits von einer Reihe von Krankenhäusern für Schulungszwecke sowie für Physiotherapie verwendet.
Zuckerberg stößt bei seinen KI-Aktivitäten jedoch auf reichlich Konkurrenz. Alle großen Tech-Konzerne haben das Thema als Wachstumsfeld erkannt und investieren Milliarden. „ In den kommenden fünf bis zehn Jahren hat KI im Gesundheitsbereich das größte Potenzial, um Dinge zu verbessern“, glaubt etwa Google-Chef Sundar Pichai. Zwischen 2016 und 2020 haben die Big-Tech-Unternehmen etwa 11,5 Milliarden Dollar im Healthcare-Bereich investiert, haben Analysten von CB Insights berechnet.
Die USA stechen dabei – wie so oft – durch viele Kooperationen zwischen der Wissenschaft und der Wirtschaft hervor. Ob Cloud-Dienstleistungen für die Verarbeitung und Aufbereitung von Daten, die Überwachung von Patienten aus der Ferne oder individualisierte Medizin – Ärzte nutzen KI für eine ganze Reihe von Anwendungsfeldern, die in den kommenden Jahren stetig wachsen werden. Das könnte einen überraschenden positiven Nebeneffekt haben: „Im Idealfall könnte das Arztbesuche wieder menschlicher machen“, glaubt Eric Topol, Professor für Molekularmedizin an der Forschungseinrichtung Scripps Research im kalifornischen La Jolla. Topols Vision: „ Arztbesuche für Hautausschläge und Blasenentzündungen, einige der häufigsten Gründe, warum Patienten zum Arzt gehen, können Sie dank KI selbst diagnostizieren.“, wie er in einem Podcast erklärte. Ärzten bliebe dadurch mehr Zeit für Patienten, die wesentlich dringender die Aufmerksamkeit der Mediziner benötigen.
Ein zentrales Element, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen: Die Sprachaufzeichnungen bei der Anamnese müssen maschinell so verarbeitet werden, dass die Informationen von Programmen erkannt und dann von anderen Ärzten genutzt werden können. Natural Language Processing heißt das Stichwort. Das Rush University Medical Center in Chicago hat dafür zum Beispiel das neue Data Lake von Amazon getestet, das sich speziell an Kunden aus dem Gesundheitsbereich wendet und daher „Health Lake“ genannt wird. Das Angebot ist Teil einer neuen Offensive von Amazons Cloud-Sparte AWS.
Der Datensee soll dabei helfen, Patientendaten zu strukturieren, um einen Überblick über den Gesundheitszustand zu erhalten, erklärte Amazons KI-Experte Julien Simon Mitte Juli in einem Blog-Eintrag des Konzerns. Health Lake wandelt unstrukturierte Daten mithilfe von maschinellen Lernmodellen um, um automatisch medizinische Informationen aus den Daten auszulesen, die dann abgefragt und durchsucht werden können. „Wir können Daten aus verschiedenen Quellen abrufen, was gerade bei Covid-Patienten sehr wichtig ist“, erklärt Chief Analytics Officer Dr. Bela Hota. So können Ärzte schnell sehen, welche Medikamente die Patienten nehmen und welche Vorerkrankungen sie haben.
Auch Microsoft investiert stark in diesen Bereich. Im April übernahm Microsoft das auf KI und Cloud-Computing spezialisierte Unternehmen Nuance Communications für knapp 20 Milliarden Dollar. Es war die zweitgrößte Übernahme der Konzerngeschichte, hinter LinkedIn. „Künstliche Intelligenz hat in der Technologiebranche heute oberste Priorität. Und das Gesundheitswesen ist der dringlichste Anwendungsbereich.“, stellte Microsoft-CEO Satya Nadella klar. Microsoft hat unter den Tech-Konzernen die meisten Patente zu Gesundheitstechnologien, gefolgt von Google und Apple.
Bei ihrem Vorstoß in die Medizin haben die Big-Tech-Unternehmen einen entscheidenden Vorteil: Sie haben schon jetzt eine riesige Nutzerbasis. Die Daten und die Expertise helfen dabei, schnell neue Angebote auf den Markt zu bringen. Sie sitzen zudem auf riesigen Cash-Reserven und können kleinere Konkurrenten bei Übernahme-Wettstreiten problemlos überbieten. „Die Tech-Konzerne haben sich eine Aufwärtsspirale geschaffen, die sich immer weiterdrehen kann.“, so die Analysten von CB Insights.
So hat Googles Gesundheitssparte Google Health eine in Europa bereits zugelassene Anwendung entwickelt, die Hautkrankheiten erkennen soll. Nutzer machen mit ihrem Smartphone ein Foto von einer Haut-Irritation. Die künstliche Intelligenz gleicht das Foto mit Datenbanken ab und soll Ärzten so bei der Diagnose helfen. Die Suchmaschine wird ohnehin längst von Verbrauchern zur Recherche von Krankheitssymptomen genutzt. Zehn Milliarden Google-Suchen pro Jahr gebe es dem Konzern zufolge allein für Beschwerden rund um Haut, Haare und Nägel.
Apple stellt bereits jetzt eine App zum Speichern und Teilen von Gesundheitsdaten bereit – ein Angebot, das noch weiter ausgebaut werden soll, auch dank der Daten, die die Apple Watch sammelt. Mithilfe von Sensoren misst die Apple Watch schon heute Daten wie die Blutsättigung. Der Herzschlag lässt sich KI-unterstützt auf Anzeichen für ein Vorhofflimmern hin untersuchen. Die Uhr kann dann Nutzer warnen, im Notfall schnell einen Arzt anzurufen oder sogar eine vorher festgelegte Kontaktperson informieren.
Der große Einfluss der Tech-Konzerne „ist nicht ideal“, gibt Eric Topol zu bedenken. So wie in Europa sorgen sich auch in den USA immer mehr Experten, dass ausgerechnet die sensiblen Gesundheitsdaten nicht genug geschützt sind – und Big Tech dabei ist, noch viel mächtiger zu werden. Die Angebote der Tech-Konzerne, die direkt mit Krankenhäusern arbeiten, unterliegen dem Datenschutzgesetz HIPAA. Es erlaubt die Weitergabe von Gesundheitsdaten nur dann, wenn die Patienten dem zustimmen.
Doch Facebook, Amazon und Co. dringen auch in weniger regulierte Bereiche vor. So begann Amazon im vergangenen Jahr, Medikamente zu verschicken, auch verschreibungspflichtige wie Antidepressiva. Das gibt dem Konzern zusätzliche und sensible Einblicke in das Leben seiner Kunden. Amazon bekam in den USA zudem die Genehmigung, mithilfe von Radar-Sensoren dreidimensionale Bewegungen aufzuzeichnen. Damit will Amazon den Schlaf seiner Nutzer noch genauer messen. Doch für die Tech-Unternehmen könnte es künftig schwieriger werden, Daten zu sammeln. In Kalifornien arbeiten Demokraten derzeit an einem Gesetz, das die bestehenden Regeln auf Bundesebene zur Privatsphäre bei Gesundheitsdaten verschärfen würde. Demnach müssten die Nutzer künftig auch abseits des Kliniksektors ausdrücklich ihre Genehmigung erteilen, bevor Unternehmen Daten über gesundheitsbezogene Daten sammeln dürfen.
Ohne das Engagement der Tech-Konzerne geht es jedoch nicht, warnt Topol. Die meisten Krankenhäuser hätten viel zu wenige KI-Experten, um die Entwicklung allein voranzutreiben. „Sobald Mitarbeiter in dem Bereich ausgebildet sind, gehen sie überall hin – nur nicht in die Krankenhäuser“, so Topol. In der freien Wirtschaft könnten sie schließlich ein Vielfaches verdienen, schon direkt nach der Uni. „Daher müssen wir uns im Moment auf die Tech-Titanen verlassen, um uns zu helfen.“
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