Horneber warnt vor Kollaps des Systems

Die Politik überzieht Deutschlands Krankenhäuser mit immer mehr Bürokratie. Für strategisches Denken bleibt angesichts der umfangreichen Gesetzesänderungen keine Zeit, klagt der Vorstandsvorsitzende der christlichen Agaplesion gAG, Dr. MarkusHorneber. Er kritisiert unklare Zuständigkeiten in der Gesundheitspolitik und warnt vor dem Zusammenbruch des Systems, wenn es so weitergeht. 

Interview: Dr. Stephan Balling

Herr Dr. Horneber, die Geschäftsführer deutscher Gesundheitsunternehmen, insbesondere der Krankenhäuser, geben an, dass ihre Organisationen ihre Innovationskraft nicht ausschöpfen, zugleich sehen sie Innovationskraft als sehr wichtig an. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

Dafür gibt es eine eindeutige Erklärung: In den Krankenhäusern sind wir zurzeit mit dem operativen Alltags-Klein-klein so sehr beschäftigt, dass kaum Raum bleibt, um strategisch zukunftsgewandt zu denken. Die Politik überzieht uns ständig mit neuen Vorgaben und Änderungen. Allein um das MDK-Reformgesetz umzusetzen, planen wir intern eine zweitägige Konferenz ein, die Pflegereform ist ein Bürokratiemonster. Um über Innovationen nachzudenken, bleibt keine Zeit. Wir arbeiten nur noch daran, Gesetzesvorgaben zu erfüllen. Bei Agaplesion haben wir uns bewusst entschieden, bis ins erste Quartal 2020 hinein darauf eine klare Priorität zu setzen. Andere Dinge müssen dahinter zurückstehen. Wir können, auch weil wir in den vergangenen Jahren bereits viel Kraft in die Digitalisierung investiert haben, mit diesen politischen Rahmenbedingungen vielleicht gerade noch umgehen, kleine Häuser ohne Verbund aber nicht.

Inwiefern?

Viele Krankenhäuser kämpfen ums nackte Überleben und beschäftigen sich damit, wirtschaftlich zu arbeiten. Derzeit besteht die größte Herausforderung darin, Personal zu finden und zu binden, und zwar in allen Bereichen bis hin zu Reinigungskräften. Der Arbeitsmarkt ist leergefegt. Das bindet bereits enorme Management-Kapazitäten. Dazu kommen die vielen neuen Regeln und Reformen, etwa in der Notfallversorgung. Ein Geschäftsführer allein in einem kleinen Haus kann das alles gar nicht abarbeiten. 

Zumindest im politischen Berlin scheinen kleine Häuser ohnehin nicht mehr gewollt zu sein. 

Richtig ist, dass sich im deutschen Gesundheitswesen die Fachkräfte auf viel zu viele Krankenhäuser verteilen. 

Auf Landesebene wird das größtenteils anders gesehen, in Bayern etwa haben die mitregierenden Freien Wähler einen Bestandsschutz für kleine Krankenhäuser ausgerufen.

Vielleicht stößt unser deutsches Gesundheitswesen mit seinen föderalen Strukturen an seine Grenzen. Baupauschalen mancher Länder verhindern eine wirksame Strukturplanung, die Beplanung von Fachabteilungen ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich – warum?

Sollte Krankenhauspolitik Bundessache werden?

Die Bundespolitik betreibt bereits ihre Agenda, ist aber auf die Mitarbeit der Selbstverwaltung angewiesen. Jeder verfolgt dort seine eigenen Ziele, die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), die Kassenärztliche und Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KBV, KZBV), die Ärzte- und künftig auch noch Pflegekammern sowie die Krankenkassen. Dazu kommen ständige Streitereien an der Sektorengrenze zwischen ambulant und stationär. All diese Strukturen, föderale wie Selbstverwaltung, würden völlig anders aussehen, wenn man den Patienten in den Mittelpunkt stellen würde. 

Wie lautet Ihre Lösung? Ein staatliches System?

Zumindest scheint es in staatlichen Strukturen wie in Skandinavien leichter zu sein, in der Digitalisierung voranzukommen. Jedenfalls sind diese Länder uns voraus, wie internationale Vergleiche belegen. 

Ein staatliches Gesundheitssystem würde auch das Ende von privaten und freigemeinnützigen Häusern bedeuten. Wollen Sie sich selbst abschaffen?

Das kann sein, muss es aber nicht. Entscheidend ist, was dem Patienten und einer guten Versorgung dient. Jedenfalls ist für mich klar: Wenn es so weitergeht, wird das Gesundheitssystem auf absehbare Zeit kollabieren.

Weshalb?

Künftig werden Daten der entscheidende Treiber des Erfolges sein. Als Krankenhäuser sind wir nicht gut darin, Daten zu managen. Das können andere besser, insbesondere Unternehmen wie Amazon oder Google. Vielleicht eröffnet Google irgendwann ein Krankenhaus in Deutschland und ermöglicht es dem Patienten, mit seinen Daten zu bezahlen. Das ist keine Science Fiction, sondern eine realistische Möglichkeit. 

Am einfachsten wäre es für Google, wenn zum Beispiel Fresenius seine Helios-Krankenhäuser oder ein größerer freigemeinnütziger Eigentümer seine Klinikkette veräußern würde. Patienten könnten im „St. Google Spital“ dann das Angebot bekommen: kostenloses Einbettzimmer und Chefarztbehandlung gegen vollständige Freigabe aller Daten.

Das wäre ein absolutes Horrorszenario, vielleicht noch nicht einmal so sehr für die Patienten, aber für die etablierten Leistungserbringer. Das deutsche Gesundheitswesen würde dann jedenfalls sukzessive von der Westküste der USA gesteuert. Und es kann gesellschaftlich gruselig werden, wenn die Patienten mit ihren zuvor freigegebenen Krankheitsdaten dann in ganz anderem Kontext wieder konfrontiert werden. 

Sehen Sie den Ball nur bei der Politik? Welche Verantwortung trägt das Management?

Sicher sind auch die Geschäftsführer und Führungskräfte in den Krankenhäusern gefragt. Die sehen vielleicht zu oft keine Innovationsnotwendigkeit, wenn neue Methoden nicht honoriert und bezahlt werden. Beispielsweise ist das Honorar von 12 Euro für Online-Sprechstunden ein Witz. Da haben wir auch keinen Druck innovativ zu sein. Aber das gefährdet eben auch die eigene Zukunftsfähigkeit.

Fax und Bleistift, so das weitläufige Vorurteil, prägen den Datenaustausch in deutschen Krankenhäusern. Stimmt das eigentlich noch?

Ja, das stimmt immer noch. Mittlerweile laufen zwar viele Prozesse digital, aber es fehlt der übergeordnete Workflow. Wir arbeiten in den Krankenhäusern mit 150 verschiedenen Systemen, die oftmals nicht miteinander verbunden sind, weil Schnittstellen fehlen. Die zu installieren, ist aber sehr teuer und komplex, was auch daran liegt, dass beispielsweise die Krankenhausinformationssysteme (KIS) teilweise 30 Jahre alt sind und mit moderner Usability nichts zu tun haben. 

Warum scheitert Digitalisierung in Deutschland so oft?

Erstens verhindert die Organisation des deutschen Gesundheitswesens oftmals Innovationen und digitale Erfolge. Es geht zu oft um Pfründe, und es herrscht zu wenig Klarheit, wer für was verantwortlich ist. Zweitens haben wir gewaltige Probleme mit Schnittstellen, weshalb Daten nur schwer von einem in ein anderes System fließen können. Drittens fehlen uns Mitarbeiter: Eine normale IT-Fachkraft kostet pro Jahr mittlerweile manchmal einen sechsstelligen Betrag. Viertens mangelt es an Geld. Und fünftens fehlt vielfach die Einsicht, dass Digitalisierung nötig ist. 

Siim Sikkut, der CIO Estlands, sagt, dass insbesondere Ärzte schwer zu überzeugen sind, wenn es um Digitalisierung geht. Teilen Sie diese Erfahrung?

Nur zum Teil. Wenn Ärzte den Nutzen sehen und beispielsweise erkennen, dass ein digitaler Prozess ihnen Zeit spart oder sie in der medizinischen Behandlung weiterbringt, dann sind sie sofort dabei. Und oftmals drehen sie den Spieß dann sogar um und fragen, weshalb etwas auf ihrem Smartphone funktioniert, aber im KIS nicht. 

Gelingt Ihnen das? 

Immer besser. Sicher, wir erleben vereinzelt immer noch Mitarbeiter, die für eine echte Innovationskultur nicht offen sind. Bei Agaplesion sind wir dabei, die Online-Sprechstunden flächendeckend umzusetzen. Ein Chefarzt hat mir aber einmal gesagt: Wenn ein Patient wirklich krank ist, dann kommt er sowieso ins Krankenhaus, da muss sich ein Arzt nicht vorher online mit ihm auseinandersetzen. Positiv ist, dass diese Attitüde mehr und mehr verschwindet. 

Wie innovativ, wie digital müssen Krankenhäuser eigentlich sein, wenn sie sich auf Grund- und Regelversorgung konzentrieren? Sind manche Anforderungen vielleicht auch übertrieben?

Nein. Wer nicht komplett digital ist, wird schon bald überhaupt nicht mehr anschlussfähig sein. Das ist dann wie bei den Banken. Die Menschen stimmen mit den Füßen ab und wollen Geld digital überweisen oder nutzen das Angebot von Fintechs. Die Folge ist, dass die analoge, also papierbasierte Überweisung teilweise schon gar nicht mehr möglich ist. Wer da nicht digital arbeitet, verliert den Anschluss. 

Wie hoch sind am Ende die Effizienzgewinne durch Digitalisierung? Herrschen da nicht mitunter auch zu hohe Erwartungen?

Im Gegenteil! Es verschleißt enorm viel Geld, wenn Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte Patientendaten und Befunde immer wieder neu erheben und erfassen müssen, statt sie in einer digitalen Patientenakte zu speichern und jederzeit abrufen zu können. Der andere Punkt ist freilich, was das für die Behandlung bedeutet. Beschäftigt sich der Arzt dann nur noch mit seinem Bildschirm oder kann er die gesparte Zeit nutzen, um mehr Zeit für das Gespräch mit seinen Patienten zu haben? Ich hoffe, dass die Digitalisierung zu einem viel menschlicheren Gesundheitswesen führt, weil sie Freiheiten schafft. Dafür sind aber sub-
stanzielle Investitionen nötig, und die Digitalisierung ist ein weiterer Grund für noch stärkere Konzentrationsprozesse. 

An welchen Kriterien müssen sich Krankenhäuser in puncto Innovationsfähigkeit messen lassen?

Einfach formuliert: Wer in sieben Jahren noch existiert, war innovativ. Das ist die entscheidende Frage: Gibt es uns dann noch oder haben Amazon, Google und Apple unsere Arbeit übernommen?

Wie weit sind deutsche Krankenhäuser, um in sieben Jahren noch zu existieren?

Die großen Kliniken und die Verbünde oder Ketten sind deutlich weiter als kleinere Krankenhäuser, die alleine agieren. Die Chefärzte etwa an den großen Kliniken sind in vielen Bereichen höchst innovativ und auch international weit vorne, keine Frage. Ein entscheidendes Merkmal, um die Innovationskraft zu beurteilen, ist aus meiner Sicht übrigens, ob es einem Unternehmen gelingt, Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten. Das Image als Innovator ist ein klares Signal.

Hat Agaplesion dieses Image?

Aus dem Feedback unserer Mitarbeiter weiß ich, dass wir oftmals auch deshalb als attraktiver Arbeitgeber gelten, weil wir digital vergleichsweise sehr gut aufgestellt sind. Mitarbeiter kommen zu uns, weil wir eine digitale Patientenakte haben und sie Daten nicht mehr handschriftlich erfassen müssen. 

Digitalisierung als Mittel gegen den Fachkräftemangel?

In gewisser Weise ja. Aber das alleine reicht selbstverständlich nicht. Gerade jüngere Menschen wollen in einem Unternehmen arbeiten, das lobt. Das führt wiederum zu Motivation und Offenheit für Neuerungen, steigert also die Innovationskraft und damit wiederum die Attraktivität als Arbeitgeber. Auch deshalb werden wir nächstes Jahr erstmals einen Wissenschaftspreis vergeben.

Wie digital ist Agaplesion?

Gemeinsam mit unseren KIS-Anbietern ist es uns gelungen, dass mittlerweile an die 90 Prozent aller Patienteninformationen digital vorhanden sind. Die sogenannte Fieberkurve ist in allen Häusern seit dem Jahr 2018 digital. Das gilt für alle unserer 23 Standorte. Einzig die mitgebrachten Unterlagen der Patienten müssen eingescannt werden.

Auf einer Skala von 1 – überhaupt nicht – bis 5 – absolut: Wo verorten Sie Agaplesion bei der Ausschöpfung des Innovationspotenzials?

Bei Agaplesion arbeiten mehr als 19.000 Menschen. Wenn ich sehe, was die alles können und auch in ihrer Freizeit machen, dann sind wir ganz weit unten, wenn es darum geht, unser Innovationspotenzial vollständig auszuschöpfen. Wir haben im Konzern also so viele kluge Köpfe, deren Potenzial wir bei Weitem noch nicht nutzen, dass ich uns auf der Skala nicht weiter als bei einer 1 sehe. 

Innovationskraft und Digitalisierung erfordern neue Organisationsformen, das beginnt im Kopf. Wie sollten Vorstände und Führungskräfte das Thema angehen?

Das ist eine Daueraufgabe. Man muss dabei bei sich selbst anfangen. Um etwas Neues zu lernen, muss man es üben und wiederholen, als Daumenregel für die Häufigkeit gilt dabei das eigene Lebensalter geteilt durch zwei. Ich bin nun 54, muss etwas Neues also 27 Mal wiederholen, bis ich es kann. Dessen muss man sich bewusst sein. Es gilt ferner, möglichst viele Mitarbeiter einzubinden in den Innovationsprozess und sie auch mal scheitern zu lassen. Fehlversuche gehören dazu. Es brauchte 5.127 Versuche bis zum ersten Zyklonstaubsauger. Elon Musks SpaceX-Rakete ist mehrfach explodiert, bis sie funktioniert hat und nun erstmals wieder landen konnte.

Auf welches Managementkonzept setzen Sie dabei?

Design Thinking und Agilität sind das Nonplusultra. Außerdem muss ausreichend Geld bereitstehen, um sich Innovationen und den Digitalisierungsprozess leisten zu können.

Brauchen Krankenhäuser flache Hierarchien, um innovativ zu sein?

Ich bin grundsätzlich für eine hierarchische Organisation in Krankenhäusern. Am Ende muss einer entscheiden. Aber trotzdem sind kreative Teams möglich. 

Zu Agaplesion gehören Krankenhäuser und Pflegeheime. In welchem Bereich ist es leichter, beispielsweise den elektronischen Datenaustausch zu organisieren?

Unsere 40 Pflegeheime sind vollständig digitalisiert. Es gibt dort praktisch kein Papier mehr. Aber das ist auch viel einfacher als in den Krankenhäusern. Es gibt keine medizinischen Großgeräte, die in die technische Infrastruktur eingebunden werden müssen. Die Anamnese ist nur einmal nötig bei der Aufnahme eines Bewohners. Wir haben eine gute Pflegedokumentation für den weiteren Verlauf. 

Warum betreiben Sie dann überhaupt noch Krankenhäuser und setzen nicht voll auf den Boommarkt Pflege?

Richtig ist: Pflegeheime sind einfacher zu führen und wir schaffen es, sie wirtschaftlich zu betreiben. Eine Ebit-Marge von 3 Prozent ist erreichbar. Wir wachsen in der Altenhilfe auch sehr stark. Ein Krankenhaus zu betreiben ist eine völlig andere Herausforderung. Aber unser Auftrag lautet, Menschen zu helfen, wenn sie alt oder eben krank sind. Das ist ein schöner Auftrag, dem wir sehr gerne nachgehen.  

Innovation aus Tradition

23 Akutkrankenhäuser, zahlreiche Pflegeeinrichtungen mit mehr als 3.000 stationären Plätzen, Medizinische Versorgungszentren und Hospize: Die 2002 gegründete gemeinnützige Aktiengesellschaft Agaplesion gehört zu den großen Akteuren im deutschen Gesundheitswesen. 2012 wurde Dr. Markus Horneber Vorstandsvorsitzender des Konzerns. Zuvor war er Kaufmännischer Geschäftsführer des Klinikums Chemnitz und Leitender Verwaltungsdirektor des Evangelisch-Lutherischen Diakoniewerks Neuendettelsau. Erste Managementerfahrungen sammelte Horneber bei Siemens als Kaufmännischer Leiter des Geschäftszweigs Standard Derivate des Geschäftsbereichs Halbleiter. Dr. Horneber promovierte 1994 im Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Erlangen-Nürnberg im Anschluss an sein Studium der Betriebswirtschaftslehre. Horneber prägt den Anspruch, den sich das Klinikum gegeben hat: Innovation aus Tradition.