Dies ist die Geschichte vom Sehen und Gesehenwerden – und im Kern auch die Geschichte hinter Transformation Leader und Future Skills.
von Stefan Deges
Biston betularia hat es unter Evolutionsbiologen zu einigem Ruhm gebracht. Der hierzulande als Birkenspanner bekannte Schmetterling steht wie kein anderes Lebewesen für die Anpassungsfähigkeit der Natur an menschgemachte Umwälzungen. Bis zum Ende des
19. Jahrhunderts war Biston betularia vornehmlich in seiner weißen Erscheinungsform bekannt. Mit seinen wenigen dunklen Pigmenten konnte er sich bestens auf die Stämme von Birken setzen, ohne von Fressfeinden entdeckt zu werden. Mimese nennen Biologen diese Form der Tarnung durch Angleichung an das natürliche Umfeld.
Als die Folgen der Industrialisierung sichtbar wurden, Ruß aus den Fabrikschornsteinen die Fauna belagerte und somit auch Birkenstämme schwärzte, stieg allmählich die Zahl dunklerer Morphen aus dem Stamm der Betularia. Während die weißen Verwandten plötzlich leichte Beute für Vögel wurden, fanden die bräunlich-schwarzen Vertreter Schutz auf den verschmutzten Baumstämmen. Umweltveränderung machte sichtbar, eigene Veränderung bot Schutz da- gegen – das ist eine zentrale Erkenntnis des Phänomens, das als Industriemelanismus in die Geschichte eingegangen ist.
Heute bringt Health 4.0, die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung, alles mit, um einen Industriemelanismus im Krankenhaussektor und im niedergelassenen Bereich auszulösen. Die Welt um uns herum ist in Totalveränderung begriffen, die weit über das Niveau der Industrialisierung vor 150 Jahren hinausreichen wird. Ein Effekt allerdings ist durchaus vergleichbar: Health 4.0 macht sichtbar, enttarnt und legt die Qualität der eigenen Leistung deutlicher offen, als es jede politische Initiative schaffen könnte. Minderwertige Leistungen fallen einer Negativauslese zum Opfer. Die Qualität einer Indikation, Therapie und Operation wird transparent. Digitale Medizin hebt mit der Zeit Tarnungen auf und beseitigt Schonbereiche. Wer sich an den Wandel nicht anzupassen vermag, wer sich nicht bewegt, wird von der Bildfläche verschwinden.
Es mag Fachkräfte im Medizinbetrieb geben, die noch an ihre Mimese glauben oder zumindest warten wollen, bis sie von selbst schwarz werden. Dafür aber wird die digitale Disruption keine Zeit geben. Das Tempo dieser Veränderung ist mit keiner technischen Revolution der Vergangenheit vergleichbar. Selbst wer sich bewegt, mit modernen Techniken Innovationen fördert und herausstechende Qualität ausweist, könnte bald zur Beute einer anderen Spezies werden: der Netzwerk-Kapitalisten.
Die digitale Transformation zu Beginn des dritten Jahrtausends nach Christi Geburt fordert also Zweierlei ein: Erstens ist es mit einer einmaligen Veränderung von Arbeitsweisen und Organisationsformen nicht getan. Ohne permanente Wandelbarkeit wird die Existenzsicherung misslingen. Die Organisation als Ganzes muss das permanente Lernen erlernen. Mit dem etablierten Projekt- und Changemanagement hat dies nichts zu tun. Hierarchien, Teamsettings, Führungsrollen, ja sogar Kulturen müssen sich wandeln, um agil und anpassungsfähig zu sein. Die Wirtschaft ist auf ihren eigenen Antrieb angewiesen. Auf die Politik sollten sie nicht zählen, denn die trägt bisher wenig bis gar nichts bei, um den erforderlichen Wandel zu bewältigen. Leider aber – und das ist die zweite Herausforderung – bleibt nicht viel Zeit. Das Tempo nimmt zu. Die Reaktionszeit muss daher erheblich kürzer sein als einst bei Biston betularia.
Die Welt um uns herum ist in Totalveränderungen begriffen. Das Tempo der Veränderungen nimmt rasant zu und die sichtbaren technologischen Fortschritte haben Auswirkungen auf die neu zu gestaltenden Spielregeln unseres Miteinanders. Warten, bis wir schwarz werden, ist in Zeiten der Mach-4-Veränderungen keine Option.
Der obige Text enthält Auszüge sowohl aus dem Magazin „Transformation Leader“ als auch (mit Anleihen an mein Buch „Revolutionary Hospital Digitale Transformation und Innovation Leadership“.