Das Medizinstudium ist längst digital. Mehr als 90 Prozent der Medizinstudenten lernen heute mit Onlinelexika und nutzen Lernvideos – obwohl viele Unis noch immer analog arbeiten und der digitalen Entwicklung hinterherhinken. Den Wunsch der Studenten zunutze macht sich eine private Hochschule in Malta. Das Medizinstudium geht nun vollends online, das Curriculum richtet sich strikt am Patienten aus und setzt auf frühe Praxisphasen.
Von Jennifer Garic
Wenn Felix Corr zur Universität geht, dann meint er damit eigentlich seinen morgendlichen Gang zum heimischen Schreibtisch – und das, obwohl der 22-Jährige Medizin studiert. Während andere Medizinstudenten bis zu zwölf Stunden pro Tag an Fakultäten in Vorlesungen sitzen und an Praxiseinheiten teilnehmen, kann Corr sich zu Hause einfach vor den Computer setzen. Denn er hat sich für ein Medizinstudium an der maltesischen EDU entschieden. Die Theorie lernt er online auf Englisch, für die Praxis geht er an ein deutsches Klinikum.
Ein virtuelles Studium
Dieses Onlinestudium auf Malta hat sich Andreas Hoeft, Leiter des Universitätsklinikums Bonn, ausgedacht. Ihm ist aufgefallen, dass die meisten Medizinstudenten schon längst zu digitalen Lernhilfen greifen. „Warum sollte dann nicht auch ein Onlinestudium möglich sein?“, fragte sich Hoeft. Mit dem Regelstudiengang vieler deutscher Universitäten war das nicht vereinbar. Denn dort ist nach wie vor strikt festgelegt, welchen Stoff die Studenten wann können müssen: In den ersten vier Semestern lernen sie Physik, Chemie, Anatomie, dann Physiologie und Biochemie – oft im Frontalunterricht. Die Studenten der EDU lernen nach dem Prinzip des problemzentrierten Lernens – wie es auch in manchen deutschen Modellstudiengängen zum Einsatz kommt. „Klassischerweise fangen Medizinstudenten mit dem Physikum an und lernen erst mal ganz viel Theorie“, erklärt Patrick Boldt, Chefarzt an der EDU und Mitglied der Ärztekammer Nordrhein. „Wir gehen bei unseren Lerneinheiten immer vom Patienten aus. Am Anfang schauen wir uns den Menschen also von außen an und behandeln erst mal Themen wie die Haut, Gliedmaßen und Co.“ So erarbeiten sich die Studenten immer tieferes Wissen. Dieses können die EDU-Studenten bereits nach acht Wochen Theorie in ihrer Praxisphase in deutschen Kliniken einsetzen. Pro Jahr verbringen sie zwölf Wochen am Patientenbett. Eine Woche vor und nach der Praxis haben die Studenten frei, den Rest der Zeit lernen sie online. Deutsche Medizinstudenten, die einen reinen Regelstudiengang absolvieren, erleben den Klinikalltag dagegen nicht vor dem ersten Staatsexamen.
Gegenwind eingeplant
Damit weicht der maltesische Studiengang stark vom klassischen deutschen Medizinstudium ab – und entsprechend groß war der Gegenwind: Die Bundesärztekammer und der Verband „Deutsche Hochschulmedizin“ haben das Studium zum Start im Jahr 2018 stark kritisiert und Studieninteressierte gewarnt: „Ein virtuelles Studium macht noch keinen echten Arzt“, schrieben die Verbände online. Für Hoeft kam die Kritik nicht überraschend: „Es war klar, dass wir Gegenwind bekommen würden, auch wenn das Modell gar nicht so neu ist, wie es klingt.“ Unterstützung erhalte das maltesische Modell zum Beispiel vom Bundesgesundheitsministerium, einzelnen medizinischen Fakultäten in Deutschland und dem Verband der Universitätskliniken, sagt Hoeft.
Digital Education Holding
Das Prinzip der EDU funktioniert so: Hinter der maltesischen Hochschule steckt ein Unternehmen namens Digital Education Holding (DEH), das von der National Commission for Further and Higher Education (NCFHE) in Malta als Anbieter von Studiengängen akkreditiert ist. Für die Praxis hat die EDU eine Kooperation mit dem deutschen Helios-Klinikverbund. Eine solche Zusammenarbeit aus kommunalen oder privaten Krankenhausträgern und ausländischen Bildungsanbietern ist nicht neu. Laut Prof. Dr. Peter Dieter, Präsident der Association of Medical Schools in Europe (AMSE), gibt es europaweit etwa 20 solcher Modelle. Laut Dr. Zineb Miriam Nouns, Geschäftsführerin des Helios Bildungszentrums Berlin, erhofft sich der Klinikträger
Topmediziner von der Kooperation mit der EDU: „Wir sind überzeugt, dass diese Form der Ausbildung der Gesundheitsversorgung und unseren Patienten enorme Chancen bieten wird. Ein besonderer Vorteil ist, dass unsere künftigen Mediziner besonders nah an der Praxis und am Praxisalltag in einer Klinik ausgebildet wurden.“ Dieser Vorteil ist auch nach Ansicht von Hoeft entscheidend: „An einer klassischen Uniklinik haben wir pro Patientenbett zwei Studenten. Das spiegelt nicht den Klinikalltag wider. Unsere EDU-Studenten sind in den Praxisphasen für rund zehn Patienten mitverantwortlich.“
Rechtlich anerkannt
Die Studenten der EDU sollen nach dem Bachelor- und Masterstudiengang auf einem Level mit klassisch ausgebildeten Medizinstudenten sein. Beide Studiengänge sind in Malta akkreditiert und müssten daher rein rechtlich auch in Deutschland anerkannt werden, so das Kalkül der EDU. Wer an der EDU einen Master of Medicine gemacht hat, soll in Deutschland die ärztliche Zulassung beantragen können. Die Idee beruht auf einer Richtlinie der Europäischen Union (EU). Da es EU-Bürgern freigestellt ist, wo sie innerhalb der Union wohnen und arbeiten, müssen gleichwertige Qualifikationen aus dem EU-Ausland anerkannt werden – so sieht das zumindest die EDU. Die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB) hat dazu nun ein Veto eingelegt. Die EU-Richtlinie setze voraus, dass das Medizinstudium an oder unter Aufsicht einer Universität absolviert werde. Die EDU hingegen ist rein als Hochschule lizenziert. Somit könnten Absolventen der EDU nicht auf eine automatische Anerkennung hoffen. Ob die Anerkennung letztendlich möglich ist, oder ob die Studenten weitere Nachweise erbringen müssen, wird sich im Jahr 2023 zeigen. Dann werden die ersten EDU-Studenten ihren Abschluss machen. Auf diesen Tag fiebert auch Student Corr hin. Denn dann kann er endlich in seinem Traumberuf arbeiten. Deutsche Universitäten verwehrten ihm, diesen Weg einzuschlagen: „Als ich mein Abitur mit einer 1,8 abgeschlossen habe, war die Freude riesig. Als ich dann aber den Numerus clausus deutscher Universitäten für das Fach Medizin gesehen habe, war ich enttäuscht“, erzählt Corr. Wer keine 1,0 auf dem
Zeugnis stehen hat, findet nur schwer einen Studienplatz in Deutschland. Denn auf einen Studienplatz kommen rund fünf Bewerber.
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Kein Numerus clausus notwendig
Wer sich an der EDU bewirbt, braucht keine 1,0 im Abitur. Bewerber müssen drei Dinge mitbringen: ausgezeichnete Englischkenntnisse, Deutsch auf C1-Niveau und eine Hochschulzugangsberechtigung. Erfahrung im Medizinbereich ist gern gesehen an der maltesischen Hochschule, aber kein Muss. Zusätzlich müssen die Bewerber ein Motivationsschreiben und ein polizeiliches Führungszeugnis einsenden. Wer die erste Hürde schafft, durchläuft einen Onlinetest und ein Videointerview. Dabei legt die Hochschule laut eigener Auskunft Wert auf den persönlichen Hintergrund und die Karriereziele. „In unserem Auswahlverfahren testen wir die Intelligenz und sozialen Kompetenzen der Studenten“, sagt EDU-Gründer Hoeft. „Unser Credo lautet: Wer schlau und motiviert ist, der kann alles lernen.“
Finanziell nicht für jeden geeignet
Damit kommt die maltesische Hochschule Bewerbern mit schlechten Abiturnoten entgegen. Aber der NC-Verzicht kostet: Studenten müssen für ein Jahr an der privaten Hochschule 19.500 Euro berappen. Wer sein Studium in der Regelstudienzeit abschließt, zahlt also insgesamt fast 100.000 Euro. Damit ist das Studium keine Alternative für Studenten mit kleinem Geldbeutel „Zum Glück stehen meine Eltern hinter meiner Entscheidung das Studium zu beginnen und helfen mir finanziell“, sagt Corr. Ein Nebenjob passt nur schwer in den Stundenplan. Die Studenten können zwar an jedem Ort mit Internetverbindung lernen, aber sie müssen sich an feste Zeiten halten. Zwei- bis dreimal pro Woche treffen sich die Studenten aus einem Jahrgang zum Beispiel zu einer virtuellen Vorlesung. Corr sitzt dann gemeinsam mit seinen acht Kommilitonen vor dem Bildschirm und startet einen Videochat. Bevor der Dozent mit seiner Vorlesung startet, müssen die Studenten einen kleinen Multiple-Choice-Test ablegen. So erfahren sie, wo noch Wissenslücken sind und der Dozent weiß, worauf er besonders eingehen sollte. Dann geht er mit ihnen zum Beispiel Patientenfälle durch – und verschickt am Ende der Vorlesung einen weiteren Ankreuztest, der diesmal benotet wird.
Weniger Landflucht?
Am Anfang einer jeden Woche erarbeiten Studenten wie Corr gemeinsam mit einem Tutor Lernziele. Haben die Studenten zum Beispiel über eine Unfallsituation gesprochen, könnte ein Lernziel heißen: Welche Arten von Knochenbrüchen gibt es und wie behandelt man diese? Auf diese Frage suchen die Studenten dann allein oder in kleinen Teams eine Antwort und präsentieren diese am Ende der Woche ihren Kommilitonen. Die Studenten lernen gemeinsam und bekommen vom betreuenden Dozenten eine Gruppennote. Zusätzlich gibt es Gesprächsrunden mit Experten und sogenannte Mentoring Sessions. Darin geht es um Themen wie Ethik, Kommunikation und Teamarbeit. Für Erstsemester gibt es zusätzliche Sprachkurse, in denen sie medizinische Fachbegriffe auf Englisch kennenlernen. Die EDU will mit ihrem neuartigen Studiengang selbst zum Problemlöser werden – zum einen für Studenten mit schlechten Noten, zum anderen für diejenigen, die örtlich gebunden sind. „Es gibt auch Studenten, die nicht in die Großstadt wollen oder ein Familienmitglied pflegen“, sagt Hoeft. „Wer bei uns online studiert, ist nur wochenweise weg und kann ansonsten vom Schreibtisch aus lernen.“ EDU-Chefarzt Boldt sieht darin gar eine Lösung des Landarztproblems: „Wenn wir die Studenten alle in die Großstadt zu den Universitäten holen, gehen natürlich nur wenige zurück aufs Land“, sagt der Kölner Arzt. „Wenn die Studenten aber direkt in ihrem Dorf oder einer Kleinstadt studieren können, sind auch die Chancen höher, dass sie alte Praxen übernehmen oder neue vor Ort gründen.“ Ob der Plan der EDU aufgeht? Das wird sich in vier Jahren zeigen, wenn die ersten Absolventen ihre Approbation in Deutschland beantragen.