Eine Schwesternschaft mit einer Oberin als Chefin: Die Digitalisierung nimmt auch auf 115 Jahre Tradition keine Rücksicht. Von der Bonner DRK-Schwesternschaft wird daher ein besonderer Spagat verlangt: Wie modernisiert man das Arbeitsumfeld in der Pflege, ohne die eigene Herkunft zu verleugnen? Ein Besuch in der ehemaligen Bundeshauptstadt.
Von Jennifer Garic
Senioren bespaßen, Hintern abwischen, Tabletten sortieren: Es gibt viele Klischees über Altenpfleger – und die Mitglieder und Mitarbeiter der Bonner Schwesternschaft des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) können sie alle einfach nicht mehr hören. „Die Pflege hat insgesamt ein großes Imageproblem“, sagt Dr. Frauke Hartung, Oberin der DRK-Schwesternschaft „Bonn“ e.V. Die Probleme sind seit Langem bekannt, in der Politik geht es ihr zu langsam voran mit den notwendigen Änderungen: Zu viel Gerede, aber kaum echte Reformen. Hartung, die sich lange selbst als Vorsitzende des Bildungsrates für Pflegeberufe in der Politik engagiert hat, beschloss vor drei Jahren: Wenn sich etwas ändern soll, dann muss man vor Ort zeigen, wie zukunftsfähige
Konzepte aussehen.
Mit dem Job als Oberin der DRK-Schwesternschaft „Bonn“ hat sie sich einen Posten gesucht, auf dem sie eine ganze Reihe starker, engagierter und zupackender Frauen an ihrer Seite weiß. Das gemeinsame Ziel: Zeigen, dass sich viele Probleme in der Pflegebranche Schritt für Schritt lösen lassen. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Pflege als fachlich anspruchsvoller und gesellschaftlich wertvoller Beruf wahrgenommen und wertgeschätzt wird, dass die Arbeitsbedingungen moderner und attraktiver werden“, sagt Hartung. Sie hat seit dem Jahr 2017 als Oberin in Bonn bereits viele Prozesse durch kleine oder große Veränderungen zukunftsfähiger aufgestellt. Statt Klemmbrettern gibt es jetzt zum Beispiel Tablets. Und Senioren erhalten WhatsApp-Unterricht, um sich nicht abgehängt zu fühlen. Wie der Veränderungsprozess Schritt für Schritt vorangeht, wie die zukunftsgerichtete Strategie die Stimmung und Kultur der Zusammenarbeit verändert, und welche Hürden es dabei zu nehmen gilt, das zeigen Hartung und ihre Kolleginnen „Transformation Leader“ während eines exklusiven Blicks hinter die Kulissen.
DIE NETZWERKERIN
Wer etwas darüber erfahren will, wie die Schwesternschaft sich in jüngster Zeit verändert hat, der ist bei Jessica Oberholthaus an der richtigen Adresse. Die 35-Jährige ist die Assistentin der Oberin und kennt einfach jeden in der Bonner Schwesternschaft, schließlich hat sie hier bereits vor 14 Jahren ihre Ausbildung zur Altenpflegerin gestartet, anschließend Management in Pflege- und Gesundheitseinrichtungen studiert, dann Absolventen des Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) bei der DRK betreut. Heute ist sie eine feste Größe auf Verwaltungsebene. Mit einem breiten Lächeln und fröhlicher Stimme erzählt Oberholthaus begeistert von ihrer Alma Mater: „Es gibt in Deutschland insgesamt 31 DRK-Schwesternschaften mit rund 22.000 Mitgliedern. Rund 2000 davon sind Teil der Bonner Schwesternschaft.“
Die Schwesternschaft in der ehemaligen Bundeshauptstadt ist also bis heute eine wichtige und einflussreiche Organisation im DRK-Verbund. Die Schwesternschaft ist auf den ersten Blick sehr traditionell aufgestellt. Die Hierarchie ist streng – an oberster Stelle steht die Oberin, auch die älteren Schwestern in Rente haben weiterhin Mitbestimmungsrecht und bleiben einflussreich, es gibt strikt einzuhaltende Entscheidungswege – und sehr viel Stolz auf die lange Tradition der Schwesternschaft. „Es ist gar nicht so leicht, auf der einen Seite modern aufzutreten und junge Menschen anzusprechen, andererseits aber unsere Tradition zu bewahren“, erklärt Oberholthaus. Allerdings: Passt nicht ein von Frauen geführtes, von klaren Werten geleitetes Sozialunternehmen, das sich einem gesellschaftlich wichtigen Feld wie der Pflege verschrieben hat, bestens in diese Zeit? Um zu zeigen, wie zeitgemäß ihre Art zu arbeiten sein kann, präsentieren sich die Rotkreuzschwestern inzwischen bei Instagram und Facebook. Sie schlagen neue, digitale Wege ein, präsentieren sich modern und zukunftsgewandt.
DIE TUTORIN
Das hat auch Maren Rink neugierig gemacht. Die 20-Jährige hat Mitte des Jahres ihr FSJ in der Schwesternschaft gestartet – so wie viele Nachwuchskräfte, die in den vergangenen Jahren dazugestoßen sind. Nach einer Onlinebewerbung und einem kurzen Vorstellungsgespräch ging es direkt los. Die Besonderheit: Rink hat sich für das sogenannte FSJ-Digital entschieden, das die Schwesternschaft seit vergangenem Jahr anbietet. Das bedeutet: Sie lädt einmal im Monat zur digitalen Sprechstunde. Dann erklärt sie Senioren zum Beispiel, wie man Apps installiert oder wie WhatsApp funktioniert. Dabei lernt sie von Anfang an, eigenverantwortlich zu arbeiten: Sie leitet und organisiert das digitale Weiterbildungsprojekt eigenständig. So hat sie sich etwa entschieden, die Sprechstunde ganz analog in einem Haus der Schwesternschaft zu veranstalten, statt in einem virtuellen Format. „Ein Onlineseminar oder ein interaktiver Livestream würde die Zielgruppe überfordern und abschrecken“, sagt Rink.
DIE AUSBILDERIN
Wenn junge Menschen wie Rink zur Schwesternschaft kommen, docken sie bei der Akademie für Pflege, Gesundheit und Soziales der Schwesternschaft an. Hier hat sich in Sachen Digitalisierung vor allem seit Ausbruch der COVID Pandemie einiges getan. Standortleiterin Bettina Taegener hat mit ihren Kollegen die Aus- und Weiterbildung für ihre Dozenten und Schüler neu aufgestellt, digitale Lerneinheiten an den Start gebracht, eine virtuelle Lernplattform etabliert. Besonders gut kommen die digitalen Formate bei erfahrenen Pflegekräften an, die zur Fort- und Weiterbildung an die Akademie kommen, berichtet Taegener. Denn für die ist das virtuelle Lernen oft einfacher zu organisieren zwischen Früh- und Spätschicht, Familie und Beruf.
Bei den Anfängern hingegen stößt das Onlinelernen teilweise an seine Grenzen. Schließlich ist der Pflegeberuf ein Dienst am Menschen. „Wie sollen wir einem Pflegeschüler via Videocall das Blutdruckmessen am Patienten beibringen?“ Für die Schwesternschaft ist darum für die Zukunft klar: Die Mischung aus digitalem und analogem Lernen macht’s. Theoriewissen gibt es online oder im Klassenzimmer mit Whiteboard. Für den klassischen Pflegeunterricht stehen in den Klassenräumen nebenan außer Tischen und Stühlen auch zwei Betten. Hier wird auch während der Pandemie in kleinen Gruppen, mit Abstand und Maske weiter in Präsenz unterrichtet.
DIE DIGITALISIERERIN
In den Pflegeeinrichtungen der Schwesternschaft sind digitale Helfer und Prozesse schon lange nicht mehr wegzudenken. Die alten Schränke voller Aktenordner wurden schon früh abgeschafft. „Wir dokumentieren seit 14 Jahren alles digital“, erzählt Barbara Renollaud, Heim- und Pflegedienstleiterin des Maria-Theresien-Stifts in Ratingen. Und der nächste Schritt ist schon in Planung: „Wir testen gerade auf einer ersten Station den Einsatz von Tablets“, berichtet Renollaud. Sind die Tablets erst einmal fest im Heimalltag integriert, will die Heimleiterin weitere Prozesse auch im Backoffice durchdigitalisieren: „Im nächsten Schritt kann ich Mitarbeiterinnen aktuelle To-dos direkt aufs Tablett schicken oder bei Personalausfällen Stationen und Aufgaben neu verteilen“, sagt Renollaud, der man die Vorfreude auf die weitere Digitalisierung anmerkt. Dank der Tablets entfällt dann der lästige Weg zum Stationsrechner zur Dateneingabe, keine Information geht unter, und letztlich bleibt mehr Zeit für die qualitativ hochwertige Versorgung der Bewohner. Die Vorteile liegen für alle klar auf der Hand – „und genau deswegen ziehen auch alle Pflegefachkräfte begeistert bei der Neuerung mit“, sagt die Heimleiterin.
DIE ANALOGE SOCIAL NETWORKERIN
Marion Müllers ist auch keine Digitalisierungsverweigerin. Trotzdem ist sie bei der Schwesternschaft diejenige, die vor allem offline Ideen und Formate für eine zeitgemäße Pflege und schlagkräftige soziale Netzwerke weiterentwickelt. Denn auch wenn digitale Kommunikation neue Chancen bietet, birgt sie auch Gefahren für Senioren. Ein Videocall am Abend und ein paar WhatsApp-Nachrichten allein verhindern noch keine Einsamkeit. Die gebürtige Bonnerin leitet darum das Projekt „Zusammen in Poppelsdorf“, kurz ZiP. Das Projekt der Bonner Schwesternschaft und des Landes NRW soll die Senioren des Stadtteils Poppelsdorf zusammenbringen. Mit einer offenen wöchentlichen Sprechstunde und einer Boule-Bahn lockt Müllers die älteren Mitbürger aus ihren Wohnungen und kämpft gegen Vereinsamung. „So bringen wir die Senioren nicht einfach nur zusammen, sondern auch in Bewegung“, sagt Müllers. Aber wie sollen Boule und Kaffeekränzchen gegen Demenz, nachlassende Kraft in den Beinen und einen schmerzenden Rücken helfen? „Wer einsam ist, baut schneller ab“, erklärt Müllers. Sie hat diesen Zusammenhang von sozialem Austausch und körperlicher und psychischer Leistungsfähigkeit schon oft beobachtet, auch in ihrem Zweitjob als Pflegedienstleitung der Tagespflege: „Beim ersten Lockdown mussten wir die Tagespflege schließen. Als wir Wochen später unsere Senioren endlich wiedergesehen haben, hat mich das schockiert“, sagt Müllers. „Viele haben in kurzer Zeit drastisch abgebaut und einfache Fähigkeiten wie Kaffee einschenken verlernt.“ Beim enormen Digitalisierungsschub darf eben nicht vergessen werden: Die Pflege ist und bleibt die Arbeit mit dem Menschen. Digitale Tools bleiben vor allem Helfer für die Pflegeprofis und verschaffen ihnen mehr Zeit und Handlungsspielraum, um optimale Pflege anzubieten.
DIE STRATEGIN
Analog und digital, Tradition und Moderne: Die Bonner müssen viel unter einen Hut bringen. Dieser Spagat prägt den Alltag der Schwesternschaft in allen Bereichen: Pflege, Personal, Mitgliederbetreuung, Außenwirkung. Oberin Hartung ist diejenige, die alles zusammenhält, die Richtung vorgibt und sich auch politisch weiter für die Interessen der Rotkreuzschwestern einsetzt. Die blonden Haare sind pragmatisch zu einem Zopf gebunden, die weiße Bluse sitzt perfekt, am dunkelblauen Blazer prangt die Brosche der Schwesternschaft. Die strenge Oberin will Hartung aber nicht geben – ihr ist es wichtig, die Stärken und Eigenverantwortung ihres Teams zu fördern. Vieles darf und soll sich verändern in den kommenden Jahren, eines aber soll weiter gelten: „Wir waren immer ein Frauenverein.“ Das bedeutet: Frauen sind stimmberechtigte Vereinsmitglieder, Männer sind lediglich angestellt. „Trotzdem sind Männer ein wichtiger Teil von uns und werden genauso gefördert in allen Bereichen wie Frauen“, stellt Hartung klar. In vielen Pflegeeinrichtungen sind Frauen deutlich in der Überzahl – und dennoch besetzen vor allem Männer die Führungspositionen. Ist das moderner? „Natürlich haben wir viele Männer in unserem Kreis, die tolle Arbeit leisten und unsere Schwesternschaft vorangebracht haben.“ Aber? „Die Pandemie hat erneut gezeigt, dass Frauen nach wie vor oft in geschlechtsspezifischen Rollen feststecken.“
Fakt ist: Frauen übernehmen nach wie vor den Großteil der unbezahlten Care-Arbeit, kümmern sich also um Kinder und pflegebedürftige Verwandte. Schwesternschaften wie die der Bonner sollen nach Hartungs Ansicht auch weiterhin die Rolle der Frau stärken: „Wir zeigen: Pflegen ist ein harter Beruf, der Würde, Anerkennung und Bezahlung verdient.“
ANZEIGE