Eine eigene Software für Frauen und eine für Männer?

Frauen und Männer arbeiten auf unterschiedliche Weise mit Computer-Anwendungen, sagt Britta Böckmann, Professorin für Medizinische Informatik und Aufsichtsratsmitglied bei Philips. Ein Gespräch darüber, warum Software darauf abgestimmt sein sollte, mit welchen Maßnahmen Philips mehr Frauen in Führungspositionen bringen will und was Unikliniken unternehmen können, um mehr Chefärztinnen für sich zu gewinnen.

Interview: Hendrik Bensch

Frau Professorin Böckmann, in der Forschung zu neuen Arzneimitteln war in der Vergangenheit zu beobachten, dass geschlechtsspezifische Aspekte mitunter nicht berücksichtigt wurden. Inwiefern spielt das eine Rolle für die Medizinische Informatik?

Wer eine künstliche Intelligenz trainieren will, benötigt dafür Trainingsdaten. Wenn die Daten in klinischen Studien aber nicht genderspezifisch erfasst wurden, kann man ein System auch nicht genderspezifisch trainieren. Die Ergebnisse würden verzerrt. Auch für die Entwicklung von Decision-Support-Systemen für Ärztinnen und Ärzte spielt das eine Rolle. Die Systeme können beispielsweise Hinweise einblenden, wenn Nebenwirkungen eines Medikaments bei Patientinnen und Patienten unterschiedlich ausfallen. Sie können somit bei der Wahl einer Therapie unterstützen. Aber auch da stehen wir vor dem gleichen Problem: Die Daten müssen genderspezifisch vorliegen.

Wo macht sich das konkret bemerkbar?

Ich leite ein Graduiertenkolleg des Uniklinikums Essen in Kooperation mit der Fachhochschule Dortmund. Dabei befassen wir uns damit, wie man das medizinische Wissen aus Leitlinien, Studien  und anderen Datenquellen mithilfe von KI und Wissensmodellierung für die Entscheidungsunterstützung von Ärztinnen und Ärzten aufbereitet. Wir konzentrieren uns dabei auf das Melanom, den schwarzen Hautkrebs. Ärztinnen und Ärzte sagen uns dazu: Aus Erfahrung wissen wir, dass es Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt, zum Beispiel, wie sie auf bestimmte Therapien ansprechen – gerade im Bereich Immuntherapie. Auch die Nebenwirkungen sind unterschiedlich. Sie können das aber bisher nicht mit Sicherheit sagen, weil entsprechende Untersuchungen fehlen.


Prof. Dr. Britta Böckmann

Das Bewusstsein für diese blinden Flecken scheint also mittlerweile vorhanden zu sein.

Ja, da hat sich in den vergangenen Jahr viel getan. Bei der KI-Forschung ist es Standard, die Datenqualität zu überprüfen und die Ergebnisse zu validieren, um Artefakte auszuschließen. Das Problem ist also nicht mehr das fehlende Bewusstsein, sondern dass Studien in der Vergangenheit oft ausschließlich an männlichen Probanden durchgeführt wurden und daher die Daten fehlen. Ein anderes Manko ist: Auch bei der Usability von IT-Anwendungen werden die unterschiedlichen Bedürfnisse von Männern und Frauen zu wenig berücksichtigt.

Inwiefern?

Es gibt erste Erkenntnisse dazu, dass Männer und Frauen unterschiedlich mit den Anwendungen umgehen. Männer schauen sich Daten eher sequentiell – also eine Information nach der anderen – an, Frauen eher ganzheitlich und vernetzt. Es ist wichtig, die Software für Ärztinnen und Ärzte entsprechend anzupassen. Das kann sich dann darin ausdrücken, welche Informationen zu einer Patientin in welcher Reihenfolge und welcher Anordnung auf dem Bildschirm erscheinen sollten.

Solche Anwendungen dürften wesentlich aufwendiger zu programmieren sein. Wie lässt sich das in der Praxis gut umsetzen?

Im besten Fall setzt man auf Responsive Design. Das Programm lernt dabei vom Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer und passt sich entsprechend an – so wie wir das auch von der Darstellung von Social-Media-Inhalten kennen. Die Vorlieben der Anwenderinnen und Anwender beim Umgang mit dem Programm werden also in das System integriert und die Darstellung entsprechend angepasst.

In der Vergangenheit wurde immer mal wieder kritisiert, dass die Softwareentwicklung zu männerdominiert sei und daher bestimmte Verzerrungen bei der Entwicklung von Anwendungen entstehen. Wie sieht es in der Medizinischen Informatik aus: Wie hoch ist in diesem Bereich der Frauenanteil?

In unserem Graduiertenkolleg sind mehr Doktorandinnen als Doktoranden – allerdings wurde das auch gezielt gefördert. Unter den Studierenden im Masterstudiengang Medizinische Informatik an der FH Dortmund, wo ich lehre, sind 30 bis 40 Prozent weiblich. Das ist also ein erheblicher Anteil. Wenn man sich dann aber die Führungspositionen anschaut, bricht es ab. In Deutschland gibt es gerade einmal vier oder fünf Professuren in der Medizinischen Informatik, die von Frauen besetzt werden.

Woran liegt das Ihrer Einschätzung nach?

Das eine ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Um eine Professur zu bekommen, sind die Anforderungen sehr hoch – dazu gehört zum Beispiel eine umfassende Publikationsliste. Wer familienbedingt eine Zeit lang ausfällt oder weniger arbeiten möchte, gerät ins Hintertreffen. In Unikliniken und Krankenhäusern wiederum gibt es einen zum Teil sehr großen Konkurrenzkampf um Führungspositionen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Frauen weniger bereit sind, diese Auseinandersetzungen in Kauf zu nehmen, um den nächsten Karriereschritt zu gehen. Ich bin daher ganz klare Befürworterin von Quoten.

Inwiefern?

Ich bin in zwei Aufsichtsräten und einem Verwaltungsrat. Und in den Aufsichtsräten wäre ich nicht, wenn ich nicht eine Frau wäre. Das war – neben meiner Expertise in Bereichen wie Digitalisierung und  Medizin – eines der Kriterien für die Suche geeigneter Personen. Und dieses Suchkriterium gab es nur, weil die gesetzlichen Quotenvorgaben vor der Tür standen. Es zeigt sich also: Es funktioniert.

Aber sträuben sich Unternehmen denn heutzutage wirklich noch so sehr dagegen, Frauen in Führungspositionen zu bringen?

Ich glaube, dass das Bewusstsein mittlerweile sehr stark vorhanden ist, dass sich etwas ändern muss. Es gibt viele Bestrebungen, den Anteil von Frauen in Führungspositionen zu erhöhen – aber die Frage ist, wie der Weg dahin gelingt. Viele Unternehmen stellen sich nicht die Frage, welche Unternehmenskultur sie brauchen, um diverser zu werden und Frauen zu ermutigen, Führungspositionen zu übernehmen. Bei Stellenausschreibungen heißt es dann, dass bei gleicher Qualifikation Frauen bevorzugt genommen werden; es wird auch gezielt mit Headhunterinnen und Headhuntern nach Frauen für Führungspositionen gesucht. Aber viele Unternehmen haben keine Antworten auf die kulturellen Fragen.

Was empfehlen Sie: Was sollten Unternehmen angehen?

Bei Philips, wo ich im Aufsichtsrat bin, fanden beispielsweise Workshops statt. Darin wurden Frauen explizit nach Bedingungen gefragt, eine Führungsrolle anzustreben. Und auch hier zeigte sich: Es sind vor allem kulturelle Aspekte wichtig. Zum Beispiel, inwiefern es kooperativ oder eher konkurrenzorientiert auf der Führungsebene zugeht, ob es auch in Führungspositionen Möglichkeiten für Teilzeit gibt – oder die Erwartung ist, 24/7 zur Verfügung zu stehen. Das alles sind Parameter, die ein Unternehmen mehr beeinflussen als eine Quote.

Was hat Philips darüber hinaus unternommen?

Mittlerweile ist Jobsharing auf der Führungsebene möglich, sodass sich nun zwei Kräfte die Führungsaufgabe teilen können. Zudem wurden Townhall-Meetings eingeführt, bei denen sich der CEO und weitere Führungskräfte zu bestimmten Themen äußern – und da sind auch verstärkt Gender- und Diversity-Themen eingeflossen. Außerdem gibt es inzwischen eine klare Vereinbarung: Meetings dürfen nur noch in den Kernarbeitszeiten stattfinden. Zudem gab es Awareness-Trainings für Führungskräfte. Dabei sollte unter anderem dafür sensibilisiert werden, wie sie bei Einstellungen vorgehen. Denn wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Führungspersonen eher Leute einstellen, die so sind und so ticken wie sie selber.

Sie sind auch Verwaltungsratsmitglied des Unispitals Basel. Dort werden gerade neue Profile für Führungspositionen erarbeitet. Was ist genau geplant?

Die klassische Rollenbeschreibung für eine Chefärztin oder einen Chefarzt an einer Uniklinik umfasst heute noch drei Aufgaben: die Leitung der Klinik, Forschung und Lehre. Diese Kombination von Anforderungen macht es fast unmöglich, diese Rolle auszufüllen, ohne 60 bis 70 Stunden pro Woche zu arbeiten. Wir überlegen gerade, wie man das trennen kann: dass zum Beispiel die Klinikleitung nicht unbedingt verbunden ist mit Forschung und Lehre. Es ist bisher ein Statussymbol, eine Klinik zu leiten und gleichzeitig eine Professur innezuhaben. Daher brauchen wir einen Bewusstseinswandel. Sonst ist es schwierig Chefärztinnen zu bekommen – und künftig wohl auch Chefärzte.

Wieso das?

Wenn ich mit den Master-Absolventinnen und Absolventen hier an der Hochschule darüber spreche, was ihnen wichtig ist, liegt die Work-Life-Balance weit vorne – und das unabhängig vom Geschlecht. Das hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt. Ich bin deshalb überzeugt, dass es für Unternehmen und Kliniken essenziell ist, sich zu verändern, um in Zukunft die besten Leute zu bekommen.

Prof. Dr. Britta Böckmann leitet den Studiengang Medizinische Informatik an der Fachhochschule Dortmund. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrats der DocCheck AG und Mitglied im Aufsichtsrat der Philips Deutschland GmbH. Zudem ist sie Mitglied des Vorstands der DGTelemed und Beiratsmitglied der Gematik.