Das Gesundheitswesen kann viel vom Handball lernen: Eine erfolgreiche Mannschaft braucht Spieler mit unterschiedlichen Fähigkeiten, mit klar verteilten Rollen – und am Ende viele Sieger statt nur einem. Nur so gelingt das erfolgreiche Zusammenspiel.
von Dr. med. Matthias Bracht, Vorstandsvorsitzender der Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser
So oder so ähnlich muss es sich für einige Verantwortungsträger in den Gesundheitsministerien der Bundesländer angefühlt haben, als vor knapp einem Jahr erstmals das Bewusstsein für das Ausmaß der Corona-Pandemie auf allen Ebenen zu spüren war. Die ganz große Bühne für Gesundheitspolitiker stand bereit: Eine große Chance, aber auch eine große Herausforderung. Natürlich kennen die Verantwortlichen die Spielregeln der Krankenhausplanung. Natürlich gibt es viele ausgewiesene Experten auf allen Ebenen der Verwaltung mit umfassenden Erfahrungen. So wie dem Trainer der Deutschen Handball-Nationalmannschaft kurz vor der Weltmeisterschaft, so wird jedoch wohl auch den Akteuren im Gesundheitswesen zu diesem Zeitpunkt bewusst gewesen sein: Teambildung Knall auf Fall ist nur selten von Erfolg gekrönt.
Wie auch Alfred Gislason hätten sich die verantwortlichen Minister vielfach etwas mehr Vorbereitungszeit gewünscht. Teambildung bedeutet Rollenfindung. Jedes Teammitglied bringt herausragende Einzelfähigkeiten mit. Eine erfolgreiche Mannschaft entwickelt sich aber nur durch eine klare Rollenverteilung zwischen den Experten. Dafür brauchen alle Spieler eine klare Vorstellung, für welche Aufgaben sie während des Spiels und vielfach auch darüber hinaus Verantwortung tragen. Letztendlich ist es wohl dieses Verantwortungsbewusstsein in Verbindung mit dem notwendigen Gestaltungsspielraum, das ein gutes Team in jeder unbekannten Situation eine erfolgreiche Antwort finden lässt. Die Bedenken vor der Herausforderung, in kürzester Zeit ein erfolgreiches Team zu formen, waren dem Bundestrainer bei dem oben zitierten Interview bereits sichtlich anzumerken. Das Ergebnis ist weithin bekannt: Die deutsche Mannschaft schied bereits in der Hauptrunde aus.
WIE ALSO SOLLTE IM WETTBEWERB GEGEN DAS CORONA-VIRUS SCHNELLSTMÖGLICH EINE GUTE MANNSCHAFT ZUSAMMENGESTELLT WERDEN?
Viele der Krankenhäuser vor Ort haben sich in den vergangenen Jahren im Wettbewerb um Patienten und Personal eher mit Argusaugen beobachtet, als mit kluger Rollenverteilung harmoniert. So blieb der Bundeskanzlerin und dem Bundesgesundheitsminister zunächst auch nichts anderes übrig, als an das Verantwortungsbewusstsein von Ärzten und Klinikmanagern zu appellieren.
Im nächsten Schritt haben die Bundesländer dann vielerorts klare Regeln aufgestellt, und durch die zusätzlichen Finanzmittel des Bundes waren erst mal alle zum Mitmachen bereit. Vielleicht auch aus Respekt vor dem übermächtig erscheinenden Gegner war die Bereitschaft zur Zusammenarbeit verhältnismäßig groß. Die Hilflosigkeit nahezu aller Akteure bei der Beschaffung von Schutzausrüstung trug ihr Übriges zur Kooperationsbereitschaft der Krankenhäuser bei. Landauf, landab ab war Anerkennung für diese Form des Miteinanders zu hören: Sowohl innerhalb der Teams als auch vonseiten der aufmerksamen Beobachter, die teils durch Klatschen, teils durch lobende Worte den Einsatz goutierten. Die erste Pandemie Welle wurde in den Krankenhäusern mit Erfolg bewältigt. Vielleicht auch deshalb, weil Deutschland aufgrund des zeitlichen Vorlaufs gegenüber den ersten Hotspots schon von Erfahrungen aus anderen Regionen profitieren konnte.
Im Sport erscheint es selbstverständlich, dass man sich für die eigene Entwicklung immer an den besser platzierten Teams orientiert. Spätestens jetzt wird der aufmerksame Leser verstehen, warum wir uns für den Vergleich mit dem Handball entschieden haben. Richtig, die skandinavischen Mannschaften sind in diesem Sport seit vielen Jahren internationaler Maßstab. Das gilt nach ganz überwiegender Meinung inzwischen auch für die Krankenhausversorgung dieser Länder. Insbesondere Dänemark ist nicht nur erneut Handball-Weltmeister, sondern auch Vorzeigebeispiel für Strukturreformen in der Krankenhauslandschaft. So überrascht es wenig, dass sich einige Bundesländer in der ersten Pandemiewelle an dänischen Strukturen orientiert haben. Durch ein System mit regionalen Teams und einer klaren Rollenverteilung zwischen den beteiligten Krankenhäusern konnten sehr gute Erfolge erzielt werden. Dabei beschränkte sich die Zusammenarbeit nicht nur auf die Patientensteuerung und -versorgung, sondern auch auf organisatorische und logistische Aufgaben. Das alles sind Prozesse und Strukturen, die ein Team erfolgreich auf unvorhergesehene Herausforderungen vorbereiten – und das könnte auch ein Erfolgsrezept für jede zukünftige Herausforderung unseres Gesundheitswesens sein.
ABER WARUM IST ES IN DER DEUTSCHEN KRANKENHAUSLANDSCHAFT GENERELL SO SCHWIERIG, ERFOLGREICHE REGIONALE KOOPERATIONEN ÜBER TRÄGER- UND VERSORGUNGSSTUFEN HINWEG ZU REALISIEREN?
Die Schuld kann nicht alleine bei dem Kader aus Krankenhausgeschäftsführern oder beim Trainerstab in den Ministerien gesucht werden. Auch hier taugt ein Vergleich mit den Handballern: Würden alle Spieler eines Teams ausschließlich für die erzielten Tore belohnt und bezahlt, würde sich niemand wundern, dass kein sinnvolles Zusammenspiel möglich ist. Besonders anschaulich wird es im Handball beim Wechsel aus der Verteidigung in den Angriff. Wie im American Football haben sich auch im Handball in den vergangenen Jahren mehr und mehr ausgewiesene Spezialisten für die Verteidigung oder für den Angriff herauskristallisiert. Bei einem Tor oder Ballverlust wechseln die Spieler je nach Situation und Profession – für Zuschauer oft kaum sichtbar – zwischen Spielfeld und Ersatzbank. Für die Krankenhäuser ist eine solche Rollenverteilung derzeit undenkbar. Gemeinsamer Erfolg spielt im Regelwerk der Krankenhausvergütung schlicht keine Rolle. Vielmehr sind alle Krankenhäuser gleichermaßen darauf angewiesen, möglichst viele hochwertige Behandlungen durchzuführen. Um im Bild zu bleiben: Sie sind darauf angewiesen, möglichst viele Tore zu erzielen. Hier geht es nicht um das Ego einzelner Ärzte oder Geschäftsführer, sondern um das Geschäftsmodell Krankenhaus in Deutschland. Egal ob klein oder groß, egal ob Generalist oder Spezialist: Jedes Krankenhaus hat den gleichen Mengenanreiz, um seine Existenz zu sichern. Statt der Leistungssicht dominiert im Krankenhaus die Kostensicht. Erfolgreiche Teamarbeit ist so nicht zu realisieren. Stattdessen herrscht eine Misstrauenskultur mit Überprüfungen und neuen Regeln. Das überbordende Maß an Bürokratie verhindert nahezu jedes Maß an Gestaltungsspielraum. Die Ergebnisse dieser Entwicklung sind für uns dementsprechend kein Grund zum Jubeln.
Wenig überraschend schlug die Stimmung der Akteure mit Beginn der zweiten großen Pandemiewelle im November des vergangenen Jahres auch schlagartig um. Mit dem Rettungsschirm 2.0 wollte der Bundesgesundheitsminister nachlegen und versuchte gleichzeitig den Bundesländern seine Spielidee im Wettstreit gegen das Virus aufzuzwingen. Corona-Patienten sollten gezielt in dafür besonders geeigneten Kliniken versorgt werden. Nur diese Kliniken sollten für ihre spezifische Versorgungsrolle finanziell entschädigt werden. Alle anderen Kliniken sollten dem Regelbetrieb nachgehen und so ihren Beitrag für eine umfassende Gesundheitsversorgung der Bevölkerung leisten. Heute wissen wir, dass diese Aufstellung dem Gegner nicht gewachsen war.
Das liegt sicherlich zum Teil daran, dass die Anzahl der Covid-Patienten kaum durch nur wenige spezialisierte Krankenhäuser zu bewältigen war. Insbesondere dann, wenn diese Krankenhäuser auch in anderen wichtigen Versorgungsbereichen eine überregionale Verantwortung für die Versorgung der Bevölkerung haben. Aber auch die Rollenverteilung zwischen den Akteuren hat nur eingeschränkt funktioniert. Das Zusammenspiel in der Versorgung hat vielerorts weniger reibungslos funktioniert als noch in der ersten Pandemiewelle. Und das sowohl zwischen den Krankenhäusern verschiedener Versorgungsstufen als auch zwischen den Krankenhäusern, die für die Versorgung von Covid-Patienten besonders geeignet waren.
Natürlich hat das auch maßgeblich mit den Anreizen aus dem Rettungsschirm und dem DRG-System zu tun: Es gab keine Anreize für die Versorgung von Covid-Patienten, sondern Geld für freie Betten. Für Häuser mit bisher unterdurchschnittlich schweren Behandlungsfällen ist das wirtschaftlich attraktiv, für Häuser mit überdurchschnittlich schweren Behandlungsfällen wirtschaftlich weitgehend unattraktiv. Eine erfolgreiche Rollenverteilung ist eben nicht ausschließlich durch finanzielle Anreize zu realisieren. Und schon gar nicht mit schlecht gemachten.
WIE SOLL EIN SPIELER, DER IN EINEM HANDBALLSPIEL NUR IN DER DEFENSIVE ZUM EINSATZ KOMMT, ANREIZGERECHT BELOHNT WERDEN? WIE WIRD DER JEWEILIGE ERFOLGSBEITRAG RICHTIG MESSBAR?
Ohne eine finanzielle Absicherung werden diese Spezialisten langfristig verloren gehen. Nur mit hochklassigen Angreifern ist heutzutage kein Wettbewerb mehr zu gewinnen. Deshalb ist für uns die Frage nach einer zukunftsfähigen Krankenhausversorgung nicht in erster Linie eine Frage von guten und schlechten oder großen und kleinen Krankenhäusern. Es ist stattdessen eine Frage nach der passenden Rollenverteilung für ein erfolgreiches Zusammenspiel. Dabei orientieren wir uns gerne an den internationalen Vorbildern und wünschen uns regionale Netzwerke aus aufeinander aufbauenden Versorgungsstufen. Bundesweit einheitliche Anforderungen an die verschiedenen Versorgungsstufen schaffen die Voraussetzungen für eine echte Teamarbeit. Dazu gehören neben den fachlichen und technischen Anforderungen auch gelebte Kooperationen mit den vor- und nachgelagerten Versorgungsstufen beziehungsweise den Bereichen der stationären Rehabilitation und Pflege. Eine flächendeckende IT-Vernetzung schafft die Voraussetzung für neue Leistungsbeziehungen von Telemedizin bis IT-Services. Mit einer Modernisierung der maßgeblichen Vorschriften zu Datenschutz bis Patientenrechten werden neue Formen der fachlichen und organisatorischen Zusammenarbeit eröffnet. Der gewonnene Handlungsspielraum erfordert ein neues Verantwortungsbewusstsein. Nur auf dieser Basis ist Teamarbeit möglich.
Natürlich braucht diese Form der Versorgung auch eine wirtschaftliche Grundlage. Die unterschiedlichen Rollen in der Versorgung müssen für jeden beteiligten Akteur mit einem tragfähigen Geschäftsmodell einhergehen. Das setzt voraus, dass wir uns von der eindimensionalen Leistungsvergütung verabschieden. Wir müssen anerkennen, dass jeder beteiligte Akteur eine relevante, aber eben nicht die gleiche Rolle für eine erfolgreiche Versorgung übernimmt. Dieser Einsatz alleine, muss je nach Risiko und Anforderungen einen Vergütungsanspruch begründen. Deshalb setzen wir uns dafür ein, Mengenanreize in der Krankenhausvergütung konsequent zu reduzieren. Ein relevanter pauschaler Vergütungsanteil belohnt neue Formen der Zusammenarbeit und schafft den notwendigen Handlungsspielraum für eine erfolgreiche Bewältigung von unvorhergesehenen Situationen.
Ein erfolgreiches Team benötigt nicht Spieler mit den gleichen, sondern mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Zudem tragen alle Spieler einen Teil zum Erfolg bei. Nicht die abschließende Platzierung der Deutschen Handball-Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft sollte handlungsleitend sein, sondern die gezeigten großen Potenziale im Zusammenspiel. Darauf lässt sich im Hinblick auf die anstehende Olympiaqualifikation aufbauen.
Auch die deutschen Krankenhäuser haben die Corona-Pandemie bisher weitgehend erfolgreich gemeistert. Viele gute Ansätze der Zusammenarbeit haben sich dabei entwickelt. Darauf müssen wir aufbauen, mit klarer Rollenverteilung in einem vernetzten Team. Nicht mit einem Sieger, sondern mit vielen Siegern. Gesundheitsversorgung ist Teamarbeit.
ANZEIGE