Digitale Innovationen verändern bereits heute die Zukunft des Gesundheitswesens. Mittels künstlicher Intelligenz (KI) verändern sich Prozesse von der Arzneimittelentwicklung bis hin zum Arzt-Patienten-Kontakt grundlegend. Die Promovierenden des ATLAS-Forschungsprojektes der Universität Witten/Herdecke stellen 10 innovative Use Cases aus den Bereichen Patientenversorgung, Forschung und Entwicklung, Diagnostik sowie Management vor, die durch KI zum Treiber für die Digitalisierung des Gesundheitswesens werden können.
Autorinnen und Autoren: Philipp Henkel, Philipp Köbe, Lisa Korte, Jonathan Koß, Thea Kreyenschulte, Laura Melzer, Katharina Pilgrim
PATIENTENVERSORGUNG
1. PRAXEN OHNE PERSONAL – SERVICES DURCH KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
Ersetzen KI-basierte Patientenkontaktpunkte schon bald den menschlichen Hausarzt? Das Unternehmen Ping An erprobt aktuell in China die unbemannte Praxis (zu KI in China siehe auch ab Seite 36). In den ersten zwei Monaten nach der Einführung haben die sogenannten One Minute Clinics bereits drei Millionen Patienten behandelt. Die Diagnostik übernimmt dabei eine KI, die anhand eines Datensatzes von mehreren Hunderttausend Fällen trainiert wurde. Ein Arzt kann bei komplexen Fragen, Unklarheiten oder Auffälligkeiten direkt telemedizinisch hinzugeschaltet werden. Anschließend können Patientinnen und Patienten die verschriebenen Medikamente in der angeschlossenen digitalen Apotheke beziehen. Um die Behandlung umfassend beurteilen zu können, sollte man jedoch noch auf die Ergebnisse zukünftiger Studien zur Qualität und Patientensicherheit warten.
2. SMARTE PFLASTER UNTERSTÜTZEN NEONATOLOGEN
Sensoren in intelligenten Pflastern bieten neben Gesundheitsförderung und Prävention auch Therapiechancen: In der stationären Versorgung kann die Kopplung der Pflaster mit weiteren Geräten die Behandlung vulnerabler Gruppen enorm verbessern, beispielsweise um Frühgeborene bei der Atmung zu unterstützen. In der Neonatologie können smarte Pflaster über Sensorik atmungsbezogene Parameter messen. Das Pflaster wird auf die Brust der Frühchen geklebt; mithilfe von künstlicher Intelligenz werden die gemessenen Parameter verarbeitet und an ein Beatmungsgerät gesendet. So lässt sich die Atmungsunterstützung an die Eigenatmung anpassen. Bisher existieren lediglich Prototypen, beispielsweise arbeiten die Technische Universität Braunschweig und die Neonatologie der Universitätsmedizin Göttingen im Rahmen des Verbundprojekts smartNIV an einem neuen Produkt mit 36 Sensoren.
3. INTELLIGENTE HIRNSCHRITTMACHER VERBESSERN DIE PARKINSONTHERAPIE
Neue, intelligente Hirnschrittmacher mit Rückkopplungsschleife – einer sogenannten closed-loop deep brain stimulation oder adaptiven Tiefen Hirnstimulation (THS) – sollen langfristig die Behandlung von neurologischen und nicht-neurologischen Erkrankungen verbessern. Während herkömmliche Open-Loop-Systeme nur elektrische Impulse senden, können die Closed-Loop-Systeme über die gleichen Elektroden einen relevanten Biomarker aufzeichnen. Durch künstliche Intelligenz auf Basis von Deep Learning lassen sich die Stimulationsparameter an den jeweiligen Bedarf anpassen. Einen Stimulationsalgorithmus hat unter anderem der Mediziner, Physiker und Mathematiker Prof. Peter Tass vom Forschungszentrum Jülich programmiert, um im Rahmen des Projekts DBS SMART einen intelligenten Hirnschrittmacher zu entwickeln. Die adaptive Tiefe Hirnstimulation ist der Standard-THS über-legen: Sie verbessert den Behandlungserfolg und verringert Nebenwirkungen.
DIAGNOSTIK
4. HÖHERE EFFIZIENZ IM HYBRID-OP
Ein Hybrid-Operationssaal (Hybrid-OP) ermöglicht diagnostische und therapeutische Verfahren innerhalb eines Settings. Auf diese Weise können digital-gestützte Behandlungsmethoden umgesetzt werden, die eine schnellere Diagnose sowie zielgenauere Intervention ermöglichen. Eine Weiterentwicklung minimalinvasiver Eingriffe unter Einbezug gleichzeitiger, diagnostischer Verfahren ist in einem Hybrid-OP möglich. Im Rahmen dieses „One-Stop-Shop“-Modells lassen sich beide Leistungsbereiche kombinieren. Der Hybrid-OP verfügt über eine vollautomatisierte, digitale Bildverarbeitung. KI-gestützte Bilderkennung kann während des Eingriffs die Operierenden zusätzlich in Echtzeit unterstützen. Besonders in der Thorax- und Gefäßchirurgie wurden weitreichende Erfahrungen im Hybrid-OP gesammelt.
5. GESUNDHEITSAPPS IN DER HERZINFARKT-PRÄVENTION
Das Risiko für Vorhofflimmern bleibt häufig unerkannt. Um ein kontinuierliches Screening zu ermöglichen, können spezielle als Medizinprodukt zertifizierte Apps genutzt werden. Diese „Screening-Apps“ nutzen die Hardware eines Smartphones, um Vorhofflimmern zu erkennen. Dazu legt der Anwender seine Fingerspitze auf die Smartphone-Kamera. Eine KI verarbeitet das Videosignal, woraus sich eine Pulskurve ermitteln lässt. Die App untersucht diese anschließend mit Blick auf Anomalien. Darauf basierend lässt sich ein Vorhofflimmern mit hoher Präzision feststellen (Beispiel der App Preventicus: Sensitivität 87,5 % und Spezifität 95 %), ohne dass Patienten zunächst einen Arzt aufsuchen müssen. Somit könnten Anwender regelmäßig und selbstständig Screenings durchführen, die vermutlich kostengünstiger sind als in medizinischen Einrichtungen. Trotz der technischen Möglichkeiten bleiben einige Herausforderungen. So ist beispielsweise fraglich, ob hochbetagte Patienten, die zur Hochrisikogruppe zählen, die App-basierten Anwendungen steuern können.
FORSCHUNG & ENTWICKLUNG
6. MIT BIG DATA ZUR EFFIZIENTEN KLINISCHEN STUDIE
Im Arzneimittelentwicklungsprozess scheitern die meisten Medikamente in den klinischen Testphasen II und III, aufgrund inakzeptabler Nebenwirkungen oder mangelnder Wirksamkeit. Das grundlegende Problem stellt oft die Auswahl eines falschen Wirkungsziels dar. Grundsätzlich fußt die Entscheidung zur Modulierung eines bestimmten Ziels auf der Analyse bestehender Forschung. Auf diese Weise sollen relevante Beziehungen zwischen verschiedenen biologischen und chemischen Faktoren erkannt werden. Das manuelle Generieren dieser Erkenntnisse nimmt einige Stunden in Anspruch. Eine KI hingegen liest und kartographiert die Zusammenhänge unterschiedlicher digitaler Datensätze beispielsweise aus Bio- und Literaturdatenbanken in Sekunden – und kann somit Zielmoleküle im Arzneimittelentwicklungsprozess identifizieren. Weitere Anwendungsgebiete liegen in der Molekülauswahl und entsprechenden Patientenpopulationen, etwa für Medikamente der Präzisionsmedizin.
Ein zentraler Erfolgsfaktor in der Medikamentenentwicklung ist die Auswahl geeigneter Wirkstoffkandidaten. Das kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Der Einsatz von KI kann diesen Prozess beschleunigen. Ein Beispiel hierfür ist der Algorithmus DeepTox, den Wissenschaftler der Universität Linz entwickelt haben. Er basiert auf neuronalen Deep-Learning-Netzwerken (DLN) und ermöglicht unter anderem die Klassifikation der Rohdaten. Die zugrundeliegende Pipeline besteht dabei aus der Identifikation unterschiedlicher Wirkstoffmerkmale, die in ihrer Gesamtheit ein einzigartiges Wiedererkennungsprofil haben. Zu den Merkmalen, die als Algorithmus-Input genutzt werden, zählt unter anderem die Anzahl der Atome. Der Algorithmus ermöglicht die Verbindung der Input-Daten mit einem bestimmten Output, in diesem Fall eine Klassifikation in toxisch oder nicht-toxisch. In einem Testlauf konnte der Algorithmus in acht von zehn Fällen korrekt zwischen toxischen und nicht-toxischen Wirkstoffen unterscheiden.
8. KI UNTERSTÜTZT DIE AKQUISE VON STUDIENTEILNEHMERINNEN
Trotz einer andauernden Debatte existiert weiterhin eine geschlechtsspezifische Kluft in klinischen Studien und somit in der Patientenversorgung. So sind beispielsweise kardio-vaskuläre Erkrankungen die häufigste Todesursache beider Geschlechter; jedoch sind bei Männern Anzeichen für und Auswirkungen von entsprechenden Erkrankungen deutlich häufiger bekannt als bei Frauen. KI, im Speziellen Natural Language Processing (NLP) zur Auswertung von Patientendokumenten, kann den Auswahlprozess mit Blick auf eine adäquate Geschlechterverteilung unterstützen. Die manuelle Auswahl von Studienteilnehmerinnen ist aufwendig, da mehr Informationen – unter anderem biologischer Natur – berücksichtigt werden müssen. KI kann hier unterstützen und effizient die Patientinnendaten auf vorab festgelegte Merkmale hin analysieren. Die KI extrahiert und kategorisiert Daten – Aufgaben, die sonst Versorger oder Forscher übernehmen und dabei deutlich langsamer zu Ergebnissen kommen. Anhand mehrerer Studien konnte belegt werden, dass der KI-Einsatz den Aufwand im Auswahlprozess klinischer Studien um bis zu 85 Prozent reduzieren konnte. Im Detail bedeutet dies: Durch eine KI würden nur noch rund 24 Minuten gebraucht, um 90 Patienten bei klinischen Studien zuzuordnen, anstatt klassischerweise rund 110 Minuten – hochgerechnet auf eine große Studienpopulation eine enorme Zeitersparnis.
9. DATA MINING IN DER NOTAUFNAHME
KI kann bei der Triage im Klinikum einen wesentlichen Beitrag leisten. Dabei lässt sich mithilfe von Data Mining der Workflow in der Notaufnahme optimieren, sodass mehr Patienten in kürzerer Zeit behandelt werden können. Für die Triage spielt das eine entscheidende Rolle, da bei einem besseren Workflow potenziell auch mehr dringende Fälle versorgt werden können. Bei besonders zeitkritischen und ressourcenintensiven Fällen, wie einem Schlaganfall, bieten Pre-Hospital Assessments per Datenübertragung die Möglichkeit, sich optimal auf den eintreffenden Patienten vorzubereiten. In diesem Fall liefert der Rettungsdienst Daten vorab, die über telemedizinische Anwendungen übertragen werden. Darüber hinaus haben Forscher einen Risiko-Score entwickelt, der auf Grundlage von Machine Learning den Outcome ableitet, wenn bestimmte Triage-Priorisierungen vorgenommen werden.
10. KI IN DER KRANKENHAUSABRECHNUNG
Aufgrund steigender Patienten- und Aktenanzahl je Mitarbeiter im Krankenhaus ist die manuelle Zuweisung der erbrachten Leistungen zur Vergütung mittels Fallpauschale (DRG) ressourcenintensiv, zeitaufwendig und fehleranfällig. Für eine optimale Kodierung könnte Natural Language Processing (NLP) in Kombination mit einem Algorithmus zur Klassifikation genutzt werden. NLP ermöglicht die Analyse von unstrukturierten Daten, beispielsweise Freitextfeldern in elektronischen Patientenakten. Für eine automatisierte Kodierung mittels NLP werden zunächst Sätze und Wörter getrennt sowie irrelevante Wörter entfernt. Mit den daraus resultierenden Schlüsselwörtern kann beispielsweise ein Algorithmus zur Klassifikation trainiert werden. In dem Trainingsdatensatz werden die identifizierten Keywords mit bestimmten Outcomes (ICD und OPS Codes) verknüpft, sodass eine Klassifizierung in Abhängigkeit von den Freitextfelder einer Patientenakte vollzogen werden kann.