Der klassische Dienstplan hat ausgedient. Besonders junge Ärzte fordern immer mehr Flexibilität und familienfreundliche Arbeitszeiten. Wer als Arbeitgeber attraktiv bleiben will, steht unter Zugzwang.
Von Jennifer Garic
Heute Früh-, morgen Spätdienst und am Wochenende Nachtschicht. Was nach einem Horrorszenario klingt, ist in vielen deutschen Krankenhäusern Alltag. Überstunden sind an der Tagesordnung, das Stresslevel ist hoch. Die Realität kollidiert mit den Wünschen der Arbeitnehmer: Fast 95 Prozent der über 11.000 befragten Medizinstudenten gaben an, dass ihnen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf „sehr wichtig“ oder „wichtig“ ist. Eine Studie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zeigt: Auch vorn mit dabei sind geregelte Arbeitszeiten (84,1 Prozent), die die Mitarbeiter dennoch flexibel gestalten wollen (83,8 Prozent). Das heißt: Wer als Arbeitgeber attraktiv bleiben will, muss sich von starren Dienstplänen und Schichtmodellen lösen.
Das Klinikum Saarbrücken hat das schon früh erkannt. Bereits seit dem Jahr 2001 bietet das Klinikum den Mitarbeitern flexible Arbeitszeitmodelle. Die jeweiligen Arbeitszeiten können die Beschäftigten mit ihren Vorgesetzten individuell abstimmen. Der damalige Personaldirektor Edwin Pinkawa hielt das für den richtigen Weg und sagte zum Start des neuen Modells: „Wenn Krankenhäuser in Zukunft bestehen wollen, müssen sie moderne, wirtschaftliche und flexible Betriebsstrukturen entwickeln, um so die Patientenversorgung bei hoher Qualität zu sichern.“
Denn während in anderen Berufen Homeoffice, Gleitzeit und Vertrauensarbeitszeit gang und gäbe sind, können Krankenhäuser ähnlich einer industriellen Produktion ihren Betrieb nur mit fest besetzten Schichten gewährleisten. Das schränkt die Gestaltungsfreiheit beim Dienstplan stark ein. Deshalb haben sich im Klinik- und Krankenhausbetrieb verschiedene Schichtmodelle eingependelt. Der Standard ist ein Modell aus Tag-, Spät- und Nachtschicht. Das Problem hierbei: Bei drei Schichten müssen Mitarbeiter zweimal am Tag eine Übergabe vorbereiten. Das frisst Zeit, und zudem können wichtige Infos zwischen den Schichtwechseln verloren gehen. Viele Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sind darum auf ein System mit zwei Schichten umgestiegen: Die Mitarbeiter arbeiten zehn Stunden und haben zwei Stunden Pause. Da nicht alle Mitarbeiter gleichzeitig in Pause sind, ist ein durchgängiger Betrieb möglich.
Ein weiteres Argument im Kampf um Mitarbeiter sind freie Tage. Oft arbeitet das Personal in der Kranken- und Patientenpflege 10 bis 14 Tage am Stück, und hat anschließend nur ein paar Tage frei. Unter solchen Dienstplänen leiden Freizeit und Familienleben. Da solch ein Dienstplan im Kampf um Personal kein Trumpf ist, sind einige Einrichtungen zu einem Wochenturnus übergegangen. Das heißt: sieben Tage arbeiten, sieben Tage frei. Der Pluspunkt: Wer eine Woche am Stück frei hat, erholt sich besser. Außerdem lässt es sich mit solch großen Pausen auch einfacher zwischen Tag- und Nachtschichten wechseln. Im Schnitt erreichen die Mitarbeiter so immer noch eine Wochenarbeitszeit von rund 42 Stunden.
Um bei komplexen Dienstplänen mit verschiedenen Schichten, Voll- und Teilzeitmitarbeitern etc. nicht den Überblick zu verlieren, eignen sich spezielle Programme von Anbietern wie Sieda und Atoss. Damit können die jeweiligen Abteilungen ihren Personaleinsatz digital planen. Das Klinikum Leverkusen nutzt solche Hilfestellungen bereits seit dem Jahr 2011. „Es geht letztlich darum, auf allen Ebenen mehr Transparenz und Flexibilität zu schaffen, was letztlich auch zu einer fairen und verlässlichen Dienst- und Urlaubsplanung beiträgt“, sagt Detlef Odendahl, Geschäftsbereichsleiter Recht und Personal in Leverkusen. „Gerade in unserer Branche mit 24/7 an 365 Tagen im Jahr hat die Planbarkeit der Arbeitszeit einen enorm hohen Stellenwert. Für viele unserer Assistenzärzte war unser modernes Arbeitszeitmanagement übrigens ein ausschlaggebendes Kriterium, sich für uns als Arbeitgeber zu entscheiden.“
Wenn Krankenhäuser digitale Dienstpläne nutzen, haben sie noch weitere Vorteile. Denn die Systeme kennen zum Beispiel die Urlaubspläne und Wochenarbeitszeit der Kollegen, aber auch die aktuellen tariflichen und betrieblichen Vorgaben. Die Software verhindert damit Planungsfehler. Wird ein Mitarbeiter zum Beispiel an zwei Tagen in kurz aufeinanderfolgenden Diensten eingeteilt, wird schnell die Ruhezeit unterschritten. In solchen Fällen warnt das System.
Wichtig ist auch: Der Dienstplan sollte mindestens einen Monat vorher fertig sein. Nur so können Mitarbeiter in Ruhe ihre Freizeit planen. Die Wochenenddienste sollten wenn möglich noch weiter im Voraus feststehen. Kommt dann doch mal ein privater Termin dazwischen, ist es am einfachsten, wenn die Mitarbeiter selbst tauschen können – zum Beispiel über ein digitales Portal wie im Klinikum Leverkusen: „Wir beziehen unsere Belegschaft über ein Self Services Portal in die Arbeitszeitgestaltung ein. Mitarbeiter können dort Wünsche äußern oder auch nach definierten Kriterien Schichten tauschen“, erklärt Odendahl.
Das klingt alles wunderbar – im Krankenhausalltag kommen aber immer wieder Notfälle dazwischen. Dienstende 19 Uhr? Das spielt oft keine Rolle, wenn mehrere Notfälle gleichzeitig reinkommen. Das Problem für Personaler: Diese gelebte Realität kollidiert mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Die Richter forderten die Mitglieder der Europäischen Union im Jahr 2019 dazu auf, die Arbeitgeber zu verpflichten, ein System einzurichten, das verlässlich die täglich geleistete Arbeitszeit der Mitarbeiter misst. Nur so könne nachvollzogen werden, dass die Höchstarbeitszeit nicht überschritten wird. Das ist im Krankenhaus aber regelmäßig der Fall: Soll der Chirurg eine Operation abbrechen, weil seine Höchstarbeitszeit bereits erreicht ist? Oder stempeln Ärzte künftig einfach aus und arbeiten trotzdem in der Notaufnahme weiter?
Der EuGH hat für solche Fälle eine Ausnahme eingeräumt. Die Ausnahme sollte aber nicht zur Regel werden, mahnt Rechtsanwältin Eva Rütz: „Notfälle gehören zum Krankenhausalltag und dürfen kein Einfallstor zur Überschreitung der Arbeitshöchstzeiten bilden“, sagt die Medizinrechtlerin. „Der Arbeitgeber im Gesundheitswesen muss vielmehr Behandlungen, Operationen und Personal so planen und organisieren, dass die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes eingehalten werden.“ Viele Krankenhäuser fürchten nun einen riesigen bürokratischen Aufwand, wenn sie die Arbeitszeit aller Beschäftigten minutengenau nachhalten müssen. Doch eine objektive Arbeitszeiterfassung gilt bei Ärztekammern als der einzig richtige Weg: „Wer Selbstverständlichkeiten wie eine vollständige Erfassung von geleisteter Arbeit infrage stellt und Grenzen der Höchstbelastung missachtet, spielt mit der Gesundheit seiner Beschäftigten“, sagt Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein-Westfalen.
Und die steht bereits auf der Kippe. Denn der Stresspegel in deutschen Kliniken und Pflegeeinrichtungen ist hoch. In einer Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) haben 76 Prozent der Angestellten aus der Alten- und Krankenpflege angegeben, dass sie „sehr häufig“ oder „oft“ gehetzt sind und unter Zeitdruck stehen. Das sind 20 Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt. Grund für den Stress können Überstunden, Überlastung und auch emotionaler Stress im Umgang mit Kranken sein. Langzeitstress wiederum kann Krankheiten wie Burn-out fördern und senkt die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter.
„Nur gesunde Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in der Lage, sich adäquat um Patienten und Patientinnen zu kümmern. Außerdem steigern gute Arbeitsbedingungen die Attraktivität des Unternehmens – ein wichtiger Punkt im Wettbewerb um rare Fachkräfte“, sagt Gottfried von Knoblauch zu Hatzbach, Vorstandsmitglied der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege. Eine gute Prävention lohnt sich demnach auch wirtschaftlich für Krankenhäuser. Denn unter dem Stress leiden nicht nur die Beschäftigten, sondern es leidet auch ihre Arbeitsqualität. An 89 Prozent des Pflegepersonals gehen „sehr oft“ oder „häufig“ arbeitswichtige Informationen vorbei, wie eine DGB-Studie zeigt.
Um den Mitarbeitern eine Möglichkeit zur Stressreduktion zu geben, führte das Klinikum Saarbrücken im Jahr 2011 die Wahlarbeitszeit ein. Die Mitarbeiter können nun mit drei Monaten Vorlauf ohne Angabe von Gründen ihre Arbeitszeit auf bis zu 80 Prozent verringern. Nach einem halben Jahr oder mehr können sie wieder in Vollzeit arbeiten – wenn sie das möchten. Die Flexibilität soll vor allem Mitarbeiter entlasten, die privat Stress haben, weil sie zum Beispiel ein Enkelkind betreuen, einen Angehörigen pflegen oder einfach ein berufsbegleitendes Studium anstreben. Die einzige Einschränkung: Es können nicht mehr als 20 Prozent einer Abteilung gleichzeitig ihre Arbeitszeit reduzieren. Sonst seien die Teilzeitwünsche nicht mehr mit Aufstockungen oder Ersatzeinstellungen auszugleichen. Um Familien entgegenzukommen hat das Klinikum zusätzlich eine eigene flexible Kita für die Kinder der Beschäftigten eingerichtet. Denn der Dienstplan von Klinikangestellten passt nur selten mit den Öffnungszeiten der örtlichen Kita zusammen. Wer als Krankenhaus ein attraktiver Arbeitgeber bleiben will, der muss umdenken und flexibler werden. Denn bei Bewerbern steht heutzutage die Work-Life-Balance oft über dem Gehalt (siehe Infokasten).