Unternehmen werden nicht mehr so alt wie früher. Disruptive Technologien und sich eratisch ändernde Kundenbedürfnisse steigern die Mortalitätsrate von Firmen. Neue, junge Konkurrenten verändern Märkte. Wie der Dynamic Capability-Ansatz die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen erklärt.
Von Prof. Dr. Andreas Braun
Die durchschnittliche Lebenserwartung US-amerikanischer Unternehmen hat sich laut einer Studie der Yale University in den vergangenen vier Dekaden von knapp 60 auf zuletzt knapp 20 Jahre verkürzt. Schuld an dieser steigenden Mortalitätsrate haben neue Technologien, sich verändernde Kundenbedürfnisse, ein rapider Umbruch auf vielen Märkten, und nicht zuletzt die Unternehmen selbst. Sie schaffen es nicht, sich schnell und tief greifend genug an neue Realitäten anzupassen. Oder wissenschaftlich ausgedrückt: Es fehlt ihnen an den dynamischen Fähigkeiten.
Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung hat sich seit jeher schwergetan zu erklären, warum einige Unternehmen – unter der Annahme ähnlicher Prozesse, Strukturen und Ressourcenausstattung – erfolgreicher sind als andere. Ein nicht unerheblicher Teil des strategischen Managements beschäftigt sich seit den frühen 1960er-Jahren mit der Frage, wie Wettbewerbsvorteile entstehen und langfristig erhalten werden können. Der Begriff wird, sehr weit gefasst, als überlegene Leistung im Vergleich zu anderen Wettbewerbern in derselben Branche oder im Branchendurchschnitt definiert.
In den 1980er-Jahren war die herrschende Meinung, Unternehmen müssten sich in einem gegebenen Markt „nur“ die entsprechende Nische suchen, sich durch entsprechende Produkte und Dienstleistungen vom Wettbewerb abgrenzen, ihre Position klar definieren und diese gegenüber tatsächlichen und potenziellen Wettbewerbern hartnäckig verteidigen. Dieses als „Market-Based View of the Firm“ bezeichnete Konzept erklärt zum Beispiel, warum der Lebensmittelhändler ALDI vom kleinen Tante-Emma-Laden im Essener Bergarbeitervorort Schonnebeck zum international-tätigen Konzern aufsteigen konnte. Die Gebrüder Albrecht erkannten frühzeitig eine entscheidende Marktlücke, erfanden quasi im Alleingang das Marktsegment der Discounter und verteidigten – bis zuletzt mehr oder weniger – erfolgreich ihre Position im Markt
ALDI positionierte sich erfolgreich als Kostenführer mit dem Versprechen einer angemessenen Qualität zum günstigen Preis. Dafür sparte das Unternehmen bei Ladenausstattung und verzichtete auf eine große Produkttiefe. Produkte namhafter Markenhersteller suchte man meist vergebens in den ALDI-Regalen. Selbst die Service-verwöhnten US-Kunden lernten, dass sie einen Quarter zur Hand haben müssen, um einen Einkaufswagen zu bekommen, dass die Einkaufstüten nicht gratis sind und dass sie an der ALDI-Kasse ihre Einkäufe auch noch selbst einpacken müssen. Diese Positionierung von ALDI ließ Raum für andere Unternehmen in der Branche, sich als Qualitätsführer, mit einem hohen Qualitätsanspruch und dementsprechend höheren Preisen, zu positionieren. Beide Strategien – Kosten- und Qualitätsführer – führen zu Wettbewerbsvorteilen und können profitabel sein. Nur eine Vermischung, so mahnte der renommierte US-Professor Michael Porter, führe zu einem „stuck in the middle“ – zu einer unprofitablen Positionierung zwischen allen Stühlen.
Der Market-Based View verlor ab den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren zunehmend an Bedeutung, weil er von einer mehr oder weniger statischen Umwelt ausging. Die Realität änderte sich. Das Marktumfeld wurde dynamischer, neue Wettbewerber traten in den Wettbewerb ein, alte Platzhirsche wurden verdrängt. Zunehmend setzte sich in der Wissenschaft der „Resource-Based View of the Firm“ durch. Dieser Ansatz geht davon aus, dass Unternehmen über ein Bündel materieller und immaterieller Ressourcen verfügen, die in ihrer Kombination einen Wettbewerbsvorteil begründen. Um ihre volle Wirkung entfalten zu können, müssen diese Ressourcen vier Merkmale erfüllen: Sie müssen für das Unternehmen wertvoll (valuable), selten (rare), für andere schwierig zu imitieren (inimitable) und in der Organisation wertstiftend verankert (organized to capture value) sein. Kurz: VRIO-Ressourcen führen zu Wettbewerbsvorteilen.
IKEA Der nachhaltige Erfolg von IKEA beruht nicht zuletzt auf der Fähigkeit, Produkte anzubieten, die sich handlich in Kartons verpackt nach Hause transportieren lassen und dort von mehr oder weniger handwerklich begabten Kunden leicht zusammengebaut werden können. Die Angst, dass eine Schraube fehlt oder das Billy-Regal nach drei Sekunden in sich zusammenfällt, gehört längst der Vergangenheit an. Die Transportketten sind hocheffizient, die Produktpalette wird ständig an Anforderung und Bedürfnisse der Klientel angepasst und die Do-it-yourself-Komponente ist inzwischen nahezu idiotensicher. All das sind VRIO-Ressourcen, die IKEA aufgrund seiner langjährigen Erfahrung aufgebaut hat und die für andere Unternehmen nur schwer bis gar nicht imitierbar sind.
Aber auch für ein Schwergewicht wie IKEA könnten schwierige Zeiten anbrechen. Was wäre beispielsweise, wenn 3-D-Drucker in der Zukunft so günstig würden, dass jeder Haushalt sich einen leisten könnte und die gewünschte Wohnungsreichrichtung bequem zu Hause ausdrucken könnte? Der Weg zum nächsten IKEA, die Warterei an der Kasse und das Geschleppe der Pakete in den dritten Stock ließen sich vermeiden.
Neue Technologien verändern das Marktumfeld, machen bisherige Geschäftsmodelle obsolet, zerstören Unternehmen und Industrien. Die Digitalisierung hat gerade erst an Fahrt aufgenommen. Damit Unternehmen den Anschluss nicht verlieren, reicht es heute nicht mehr, sich auf seine womöglich jahrzehntelang aufgebaute Ressourcen zu verlassen. Vielmehr müssen Unternehmen sich ständig wandeln, Neues lernen, Altes vergessen und sich dann auch noch in Strukturen integrieren, die mit den angestammten Prozessen und Strukturen bislang sehr erfolgreich waren.
Genau an dieser Stelle setzt der Ansatz der Dynamic Capability an. David Teece, Professor an der University of California und einer der theoretischen Vordenker des Konzepts, beschreibt dynamische Fähigkeiten als die Fähigkeit des Unternehmens, interne und externe Kompetenzen zu integrieren, aufzubauen und neu zu konfigurieren, um sich schnell an verändernde Umweltbedingungen anpassen zu können. Unternehmen müssen in der Lage sein, Veränderungen in ihrer Umwelt zu erkennen (sense), ihr Geschäftsmodell anzupassen (seize) und Strukturen, Prozesse und Kultur entsprechend zu verändern (transform).
KODAK Wie schwierig dieses Unterfangen sein kann, zeigt das Paradebeispiel des Filmherstellers Kodak. Das US- Unternehmen hatte frühzeitig erkannt, dass die Digitalfotografie eine Gefahr darstellt. Die Frage war nur: Wie sollte man darauf reagieren? Variante 1: Abwarten und hoffen, dass die Fortschritte in der Speicherkapazität nicht so schnell voranschreiten, wie es das „Mooresche Gesetz“ vorhersagte? Oder Variante 2: Auf die neue Technologie aufspringen, um auf diese Art und Weise das bislang so erfolgreiche Geschäftsmodell auch noch aktiv zu unterminieren? Kodak entschied sich dafür abzuwarten. Die Folge: Die Zahl der Beschäftigten sank innerhalb von einem Jahrzehnt von 145.000 auf 19.000, der Aktienkurs brach binnen fünf Jahren um fast 98 Prozent auf unter einen Dollar ein.
Kodak reiht sich damit in eine Vielzahl von Unternehmen ein, die den Anschluss nicht geschafft haben, wie die eingangs erwähnte Studie zur Mortalität von US-Unternehmen eindrucksvoll zeigt. Untersucht wurden dabei die Crème de la Crème der US-amerikanischen Wirtschaft. Der Standard & Poor‘s 500, auf dessen Daten die Berechnungen basieren, versammelt die 500 wichtigsten börsennotierten Unternehmen der USA. Eine Folgestudie aus dem Jahr 2018 gibt kaum Anlass zur Hoffnung: 2016 war die durchschnittliche Lebenserwartung zwar wieder auf 24 Jahre gestiegen, langfristig wird sie nach Prognose der Autoren jedoch wieder sinken, um 2027 mit zwölf Jahren ihren vorläufigen Tiefststand zu erreichen. Bei der derzeitigen Abwanderungsrate werde, so die Autoren, in den nächsten zehn Jahren etwa die Hälfte der S&P-500-Unternehmen abgelöst. Besonders stark betroffen seien der Einzelhandel sowie der Finanz-, Gesundheits- und Energiesektor.
Der Lebensmitteldiscounter ALDI hat die Zeichen der Zeit offensichtlich rechtzeitig erkannt. Vor einigen Jahren begann ALDI Süd damit, seine Ladengeschäfte zu modernisieren und sein Sortiment, etwa bei Brot und Brötchen, auszubauen. Und in den USA kann man dank eines unabhängigen Lieferdienstes ALDI-Produkte online kaufen und sich innerhalb weniger Stunden direkt an die Haustür liefern lassen. Die Einkaufstüten sind aber auch bei der Heimlieferung nach wie vor nicht kostenlos.
Dr. Andreas Braun ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der BSP Business School Berlin und Geschäftsführer des Innovation Hub Institute Berlin – New York. Seine Forschungsschwerpunkte sind (Open) Innovationsmanagement, Geschäftsmodellinnovationen und Digitale Transformation. Er lebt und forscht derzeit in New York.