Mit der rasend schnellen Entwicklung von Impfstoffen hat die Pharmaindustrie Innovationskraft bewiesen. Doch mit einer intelligenteren Verwertung medizinischer Daten ließe sich noch viel mehr für die Menschheit erreichen, sagt Andreas Gerber, Vorsitzender der Geschäftsführung von Janssen Deutschland, dem in der Pharmasparte tätigen Tochterunternehmen des Gesundheitskonzerns Johnson & Johnson in Neuss. Hier spricht er mit dem Herausgeber von Transformation Leader über den neuen Pragmatismus bei der Arzneimittelzulassung, den Wert des Patentschutzes, globale Produktionsnetzwerke und lokale Reservekapazitäten.
Interview: Stefan Deges
Stefan Deges: Herr Gerber, als wir im Spätherbst 2020 sprachen, stand der erste Covid-19-Impfstoff in Großbritannien kurz vor der Notfallzulassung. Heute sind 8,7 Milliarden Dosen verkauft oder zumindest optioniert. Wie können Sie dieses Tempo erklären?
Andreas Gerber: Die letzten Monate haben wieder einmal gezeigt, dass sich die großen Herausforderungen der Menschheit nur mit Innovationen lösen lassen. Das gilt auch für Gesundheitskrisen wie die aktuelle Pandemie. Gerade in Deutschland haben Unternehmen in den vergangenen Jahren hohe Summen und viele Jahre in die Entwicklung und den Ausbau von Technologien und bestehenden Plattformen investiert. Viele dieser Unternehmen waren zudem bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten – etwa bei der Sequenzierung oder der Impfstoffentwicklung. Ebenso die Produktion: Noch während der klinischen Entwicklung haben die forschenden Unternehmen erheblich in den Auf- und Ausbau von Produktionskapazitäten investiert, parallel haben sie durch Kooperationen mit anderen Unternehmen ein weltweit wachsendes Produktionsnetzwerk aufgebaut. Janssen beispielsweise kooperiert in Deutschland mit der IDT Biologika GmbH aus Dessau.
Auch seitens des Staates haben wir in den vergangenen Monaten ungewohnt flexible und pragmatische Lösungen gesehen. Ein herausragendes Beispiel ist aus meiner Sicht das von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA für die Zulassung der Covid- 19-Impfstoffe eingeführte beschleunigte Zulassungsverfahren. Die klinischen Daten wurden in einem „Rolling Review“ schon im Prozess analysiert und bewertet, sodass wertvolle Zeit gespart wurde. Dadurch konnten die Impfstoffe schneller zugelassen werden, ohne Abstriche bei der Qualität oder Sicherheit.
Staat und private Unternehmen können also durchaus gut zusammenarbeiten. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Dass es uns gelungen ist, in weniger als einem Jahr mehrere wirksame und sichere Impfstoffe gegen Covid-19 zu entwickeln, liegt daran, dass sämtliche Akteure, Wissenschaft, Behörden, Regierungen und die forschenden Unternehmen in nie da gewesener Weise kooperiert und ein hohes Maß an Agilität und Pragmatismus gezeigt haben.
Was lässt sich daraus lernen für die Zukunft – auch in anderen Bereichen als Corona?
Wir können einiges mitnehmen: Beispielsweise haben wir gelernt, dass wir viele Prozesse beschleunigen und deutlich effizienter gestalten können, wenn wir agil sind und kooperieren. Klar ist aber auch: Wir müssen uns darauf verlassen können, dass bestimmte Grundlagen gegeben sind. Hier braucht es auch die Unterstützung der Politik.
Internationale Forschungsnetzwerke beispielsweise sind unverzichtbar für die Entwicklung medizinischer Innovationen. Dass die bestehenden wissenschaftlichen Netzwerke und Kooperationen leistungsfähig sind, haben vor allem die forschenden Unternehmen in den vergangenen Monaten bewiesen. Die Konsequenz, mit der Wissenschaftler weltweit seit Bekanntwerden des Genoms Studiendaten miteinander geteilt haben, hat das enorme Tempo der Impfstoffentwicklung erst möglich gemacht. Damit bin ich auch schon beim nächsten Learning: Der Zugang zu Studiendaten und Daten aus dem Versorgungsalltag sind eine zentrale Grundlage für die Anpassung bestehender Therapien und die Entwicklung medizinischer Innovationen. Die Daten, die aktuell im Rahmen der weltweiten Impfkampagnen generiert werden, zeigen uns, wie die Vakzine bei millionenfacher Anwendung wirken, welcher Impfstoff für welche Bevölkerungsgruppe geeignet ist, wo wir genauer hinschauen und gegebenenfalls nachjustieren müssen.
Wenn es um die Verfügbarkeit von Therapien geht, müssen wir über das Zulassungsverfahren sprechen. Dass dieses nicht erst dann beginnen muss, wenn der letzte Datensatz der oft langwierigen klinischen Studien vorliegt, zeigt das im Zuge der Zulassung der Covid-19-Impfstoffe eingeführte Rolling-Review-Verfahren. Auch diese Erkenntnis sollten wir für andere lebenswichtige Medikamente nutzen. Schnellere Zulassungsverfahren können Leben retten!
Klar ist: Jetzt reden wir über Corona, aber wir müssen auch über andere Bereiche sprechen. An Krebs sterben in Deutschland immer noch mehr Menschen im Jahr als im schlimmsten Corona-Jahr. Umso mehr wünsche ich mir, dass wir die Erfahrungen aus der Pandemie nutzen, um die Gesundheitsversorgung auch in anderen Bereichen zu verbessern. Unser Ziel sollte sein, unser Gesundheitssystem auf Basis der Erfahrungen insgesamt weiterzuentwickeln – hin zu einem System, das die Gesundheit der Bevölkerung nachhaltig schützt bzw. die besten Voraussetzungen dafür schafft, diese zu verbessern.
Die steuerliche Forschungsförderung ist eine Art Evergreen der Pharma-Lobby. Ist das auch Ihre zentrale Forderung an eine neue Bundesregierung?
Die steuerliche Förderung bleibt ein wichtiges Thema, weil wir ein Umfeld benötigen, in dem sich Investitionen lohnen. Insbesondere da, wo das Risiko einer Investition besonders hoch ist, etwa bei der Pandemieprävention oder bei der Entwicklung von Reserveantibiotika. Aber genauso wichtig ist die Beschleunigung von Zulassungsverfahren. Mehr Wirtschaftlichkeit auf diesem Feld führt am Ende auch zu niedrigeren Therapiekosten.
In Baden-Württemberg gibt künftig der Staat den obersten Innovator: Der neue Koalitionsvertrag kennt neben der staatlich geförderten Batteriezellproduktion auch eine staatlich geförderte „Roadmap Biointelligenz“ und eine staatliche Koordinierung der „Wasserstoffaktivitäten“. Wünschen Sie sich für Ihre Branche auch eine solche detaillierte Fürsorge?
Die Pandemie hat gezeigt, dass innovative Lösungen eher nicht aus dem staatlichen Bereich kommen. Auch das Verhältnis von privaten Investitionen zu staatlichen Investitionen spricht eine deutliche Sprache. Fast 90 Prozent der Investitionen sind privatwirtschaftlich getrieben. Von daher kann ich mir nicht vorstellen, dass der Staat durch Eigeninvestitionen der große Antrieb sein wird. Er sollte den Rahmen setzen und die Privatwirtschaft entwickeln lassen.
Weg vom Staat hin zu Janssen Cilag: Was haben Sie gelernt in der Pandemie?
Zunächst erfüllt es mich mit einem gewissen Maß an Stolz, dass wir gesagt haben, wir gehen das Risiko ein und entwickeln einen Impfstoff, den wir auch in hoher Stückzahl produzieren. Wir haben frühzeitig angefangen, mögliche Kooperationspartner insbesondere in der Produktion einzubinden. Das alles erfordert eine Menge Agilität und Pragmatismus. Aber: Natürlich können auch wir noch schneller werden, noch mehr Risiko eingehen, um das Tempo zu erhöhen, etwa im Hinblick auf Partnerschaften oder die Weiterentwicklung von Therapieansätzen.
Stichwort Pandemic Preparedness: Ist Deutschland mit Blick auf Ressourcen und Prozesse auf eine mögliche neuerliche Pandemie besser vorbereitet?
Das ist zumindest meine Hoffnung. Wir forschenden Unternehmen sind sicherlich noch besser darauf vorbereitet, entsprechende Innovationsmechanismen in Kraft zu setzen und Kooperationen einzugehen. Wir haben aber gelernt, dass wir in Europa keine komplette Lieferkette vorhalten. Vorprodukte kommen oft aus Asien oder den USA. Im Hinblick auf zukünftige Pandemien oder andere Herausforderungen für die Gesundheit der Bevölkerung sollten wir sicherstellen, dass Vorprodukte sowie Produktionskapazitäten schneller und zuverlässig verfügbar sind. Hier ist meiner Meinung nach die Politik gefragt. Die ganze Wertschöpfungskette muss durchdacht werden.
Pharma ist ein globalisierter Markt. Und über den Fortgang der Globalisierung ist im Zuge von Corona eine Debatte ausgebrochen: Der „Economist“ hatte bereits 2019 die Slowbalization ausgerufen. Verlangsamung des Wachstums und des globalen Handels. Damit einher geht nun offenbar: mehr Versorgungssicherheit durch Rückverlagerung und heimische Produktion. Bauen Sie künftig in jeder Ecke der Welt eigene Produktionsstätten auf, um Versorgungssicherheit vor Ort zu schaffen?
Unser Produktionsnetzwerk ist tatsächlich global angelegt, denn wir wollen sicherstellen, dass wir unsere Medikamente und Impfstoffe überall dort zur Verfügung stellen können, wo sie gebraucht werden. Auch hier kann der Staat eine neue Rolle einnehmen. Wenn es aus wirtschaftlicher Sicht nicht sinnvoll erscheint, Reservekapazitäten vorzuhalten, könnte der Staat das vertraglich mit privaten Unternehmen regeln. Aber grundsätzlich funktioniert die globale Lieferkette sehr gut. Wir hatten während der Pandemie keine Unterbrechung der Lieferkette bei Medikamenten in anderen Therapiegebieten.
Ich gieße Wasser in den Wein: Von den 8,7 Milliarden verkauften Dosen haben sich die reichen Nationen 6,5 Milliarden gesichert. Von Covax sind zwar inzwischen mehr als zwei Milliarden Dosen unter Vertrag für die ärmsten Länder, aber kaum eine ist ausgeliefert. Was ist im globalen Business falsch gelaufen, wenn die Südhalbkugel nahezu leer ausgeht?
Covax ist eine wichtige und sinnvolle Initiative, die wir als Johnson & Johnson mit rund 500 Millionen Dosen allein in diesem Jahr unterstützen. Richtig ist aber auch, dass da jetzt mehr passieren muss. Die Pandemie lässt sich nicht von Landesgrenzen aufhalten. Wir müssen nun klären, wie wir zum Beispiel die Produktion in Entwicklungsländern stärken können.
Beschert die Aufhebung des Patentschutzes, wie es die US-Administration jüngst gefordert hat, diesen Ländern eine Besserung?
Welches Problem soll das lösen? Unser aktuelles Problem ist ja nicht der zu hohe Preis, sondern die zu geringe Menge an Impfstoff. Ich sehe nicht, wie das Aussetzen der Patente dazu beitragen soll, dass wir in kürzerer Zeit mehr Dosen produzieren. Anstatt Impfstoffpatente freizugeben, braucht es mehr Kooperationen und Produktionsnetzwerke auf nationaler und internationaler Ebene. Hierfür die richtigen Rahmenbedingungen und Plattformen zu schaffen sehe ich als Aufgabe der Politik.
Es gibt auf der Welt mehr als 250 Impfstoffkandidaten. Mehr als 70 Medikamente sind zugelassen oder stecken im Zulassungsprozess. Inwieweit würde ein Aussetzen des Patentschutzes zu mehr Produkten und mehr Wettbewerb führen?
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Die Debatte um Patente lenkt vom eigentlichen Thema ab. Die Grundproblematik ist nicht das Rezeptbuch, sondern die Skalierbarkeit der Produktion und die Logistik, die sichere Verwendung – da müssen wir zusammenarbeiten mit den Behörden, Ärzten und Patienten.
Befürchten Sie in Wahrheit das Broken-Window- Theorem? Sobald eine Scheibe des Autos beschädigt ist, fühlen sich viele ermuntert, sich an den Einzelteilen zu bedienen … Sprich: Würde man das Patentwesen im Pharmabereich sturmreif schießen, wenn man in der Pandemie einmal nachgäbe?
Möglicherweise trifft das zu. Wir werden in der Zukunft neue Herausforderungen haben, bei denen wir erwarten, dass es eine forschende Industrie gibt, die Antworten liefert. Mit der Aussetzung der Patente spielt man mit dem Feuer. Das greift die Grundlage des Geschäftsmodells der Industrie an. Deshalb: Die Aussetzung von Patenten hilft weder in der Pandemie noch leistet sie einen positiven Beitrag für kommende Probleme. Im Gegenteil: Der Patentschutz ist ein wichtiger Innovationsanreiz. Wer den Schutz geistigen Eigentums aufhebt, der schwächt die Entwicklung künftiger Impfstoffe und Medikamente. Gerade in Deutschland haben Biotech-Unternehmen hohe Summen und viele Jahre in die Entwicklung der mRNATechnologie sowie die Weiterentwicklung bestehender Plattformen investiert. Ohne entsprechenden Schutz des geistigen Eigentums am Ergebnis fehlt der Anreiz, derartige Investitionen und das mit der Erforschung und Entwicklung neuer Therapien einhergehende Risiko auch in Zukunft zu tätigen bzw. zu tragen.
Bekommt ein afrikanischer Staatspräsident genauso einfach einen Termin bei Ihrem Verkaufsteam wie der EU-Ratspräsident?
Wir sprechen mit vielen Staaten und sind in Entwicklungsländern sehr aktiv. Zugleich gibt es die WHO und die Covax-Initiative. Das ist also nicht das Problem. Noch einmal: Alle Firmen, die an der Entwicklung und Produktion beteiligt sind, müssen jetzt zusammenarbeiten, um die Produktion skalieren zu können.
Die Zusammenarbeit findet faktisch statt: Astra-Zeneca lässt Impfstoff von lizenzierten Firmen in Indien, Brasilien und Argentinien zeitgleich produzieren. Ein französischer Pharmariese wie Sanofi hilft Newcomern wie Moderna und BioNTech bei Abfüllung und Logistik. Der Chemiegigant Bayer assistiert dem Tübinger Neuling Curevac bei Produktion und Auslieferung. Bleibt das? Wird die Zukunft kooperativer sein?
Das hoffe ich!
Wie wichtig sind lokale Partner für einen Global Player wie Johnson & Johnson?
Oft brauchen wir spezifisches lokales Knowhow. Wenn wir Produktionsstätten bauen oder erweitern wollen, kann das schneller und günstiger gehen mit lokalen Partnern, als wenn wir das selbst aufbauen. Es geht dabei auch um einen guten Zugang zu den lokalen Stakeholdern.
Für kleine Partner oder Start-ups ist das oft heikel, weil sie befürchten müssen, die Hoheit über die Daten zu verlieren und dass die Großkonzerne ihr Wissen absaugen.
Unsere Erfahrung ist eher, dass sich die kleinen Partner mit uns sehr wohlfühlen, weil wir ihnen auf die Spur helfen, etwa mit Infrastruktur, mit Finanzierung, Businessplänen, bei der Investorensuche. Da sehe ich uns eher als Inkubator.
Sie haben mal die Hoffnung geäußert, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft der Start ist für einen neuen digitalen Ordnungsrahmen in Europa, um zu einer besseren Balance zwischen Datenschutz und Innovation zu führen. Was hat sich durch die deutsche EU Ratspräsidentschaft gebessert?
Zufrieden bin ich nicht. Wir sollten da wirklich ambitionierter sein.
Inwiefern?
In zweifacher Hinsicht. Zunächst haben wir, gerade in Deutschland, eine Imbalance zwischen dem Bedarf nach Schutz der persönlichen Daten, der Privatsphäre und der Notwendigkeit, mit intelligenter Datennutzung Leben zu retten. Außerdem fehlt uns der internationale Datenraum für die Verknüpfung von Daten in der Breite. In vielen Therapiegebieten ist es nicht möglich, dass wir genügend Daten national zusammenbringen. Da müssen wir ein bisschen größer denken und den europäischen Kontext sehen. Wir sollten überlegen, wie wir uns als Europäische Union besser positionieren können. Ich sehe zwar gute Ansätze in einzelnen Therapiegebieten, wo wir auch über Grenzen hinweg arbeiten. Aber das können wir noch erheblich ausbauen.
Übersetzen Sie uns das mal in die Praxis, bitte: Wie schaffen wir es, die ePA, also die elektronische Patientenakte so zum Laufen zu bringen, dass der Daten- und Informationsgehalt Ihnen weiterhilft?
Gesundheitsdaten sind ein höchst individuelles und schützenswertes Gut. Im ersten Schritt müssen wir den Menschen deshalb erklären, was wir mit den Daten vorhaben und worin die Vorteile für den Einzelnen und für die Gesellschaft liegen: Wie kann ich den einzelnen Patienten optimal therapieren, wie vermeide ich unnötige oder sogar schädliche Therapien? Für die Gesellschaft spielt es eine Rolle, dass wir das System effizienter gestalten können, indem wir gezielt Therapien für Erkrankungen entwickeln, die heute noch gar nicht oder nur unzureichend behandelbar sind beziehungsweise bestehende Therapien noch besser an die Bedürfnisse von Patientinnen anpassen. Ich bin überzeugt: Wenn die Menschen verstehen, dass ihre Gesundheitsdaten dazu beitragen können, Leben zu retten, werden sie eher bereit sein, diese zu teilen.
Im zweiten Schritt, wenn wir die Daten also haben, geht es um deren Aufbereitung. Mit der Verknüpfung von pseudonymisierten Patientendaten, Abrechnungsdaten, Versicherungsdaten, klinischen Daten und Daten aus dem Versorgungsalltag, die zum Beispiel in den Kliniken generiert werden, können wir Strukturen herauslesen, die klinische Forschung beschleunigen und Ärzte insbesondere in komplexen oder seltenen Indikationsgebieten z. B. mittels KI-basierter Assistenzsysteme bei der Therapieentscheidung unterstützen – selbstverständlich, ohne ihnen die Entscheidung abzunehmen.
Dafür ist die ePA notwendig?
Die ePA ist eine gute Grundlage. Sie enthält persönliche Daten des Patienten und seine Vorgeschichte. Würden wir diese individuellen Patientendaten mit Daten aus klinischen Studien, aus den Kliniken und der Versorgungsrealität verknüpfen und dann noch um Laborberichte und klinische Befunde erweitern, dann wäre das ein großer Schritt nach vorn. Auch die Gendatenbank wäre eine wichtige Quelle. Wir sehen ja heute schon, dass spezifische Genmutationen dazu führen, dass bestimmte Tumore sich schneller entwickeln. Hätten wir ausreichend Daten, um entsprechende Muster zu erkennen, könnten wir noch gezielter Therapien entwickeln, die noch frühzeitiger und gezielter ansetzen als heute. Für die Patientinnen wäre das ein enormer Nutzen.
Die Realität im Mai 2021 lässt leider Zweifel an dieser datenbasierten Zukunftsvision aufkommen: Keiner weiß, wo genau die Menschen mit Covid-19 sterben. Laut DIVI-Register stirbt nur die Hälfte auf einer Intensivstation. Die andere Hälfte wird nicht erfasst. Der Leiter des DIVI-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, nennt das einen „Blindflug“.
Das zeigt sehr bildhaft, dass wir zu oft nicht in der Lage sind, die Daten strukturiert und in guter Qualität zu erfassen und sinnvoll zu nutzen. Deshalb: Es muss noch viel passieren, bis wir ein Ökosystem haben, das alle wichtigen Akteure einbezieht. Das System ist noch zu fragmentiert.
Wer sollte dieses Ökosystem betreiben? Krankenkassen? Kliniken? Kassenärztliche Vereinigungen? Die Pharmaindustrie?
Die eigentliche Frage sollte doch sein, was wir damit machen, welchen Nutzen wir für die Menschen stiften wollen. Wer erhält Zugang? Die Pharmaindustrie hat bis heute kein Antragsrecht und damit keinen Zugang zum Forschungsdatenregister, obwohl die forschenden Unternehmen einen großen Teil der Daten beitragen und einen Großteil der medizinischen Innovationen generieren. Medizinischer Fortschritt lebt von Datentransparenz und dem gleichberechtigten Zugang zu Daten. Dass wir ungeachtet unseres Innovationspotenzials keinen Zugang zu den vorhandenen Daten haben, sehe ich als problematisch an.
Sie haben das Konzept der sogenannten Disease Interception in den Diskurs gebracht: Krankheiten sollen erkannt und behandelt werden, bevor sich erste klinische Symptome zeigen. Ist das hiesige Gesundheitssystem ein geeignetes Biotop, um diesen innovativen Ansatz in die Fläche zu bringen?
Dafür ist eine Weiterentwicklung des Systems notwendig. Unser System wurde entwickelt, um Krankheiten zu behandeln und Medikamente und Behandlungen zu erstatten. Es ist geeignet für tradierte Krankheiten und Therapien, für die man zum Beispiel randomisierte Studien heranzieht, um die Effektivität der Therapien zu ermitteln. Überspitzt gesagt: Wir warten ab, bis die Erkrankung ausbricht, um sie dann zu therapieren – obwohl die Medizin heute schon deutlich weiter ist! Moderne Therapien setzen immer früher an und berücksichtigen immer besser die spezifischen gesundheitlichen Voraussetzungen der Betroffenen.
Wenn wir wollen, dass den Patientinnen – uns – medizinische Innovationen auch in Zukunft unmittelbar nach der Zulassung zur Verfügung stehen, müssen wir das System weiterentwickeln: weg vom Reparaturbetrieb, hin zu einem System, das die Gesundheit und Lebensqualität des Einzelnen in den Vordergrund stellt.
Dazu gehört, dass wir die Methoden, mit denen wir die Wirksamkeit neuer Therapien untersuchen, dringend an den Stand der wissenschaftlichen Kenntnis anpassen müssen. Schon heute fallen medizinische Innovationen durch das Raster, weil die standardisierten Kriterien nicht greifen. Das betrifft vor allem Bereiche, in denen der Bedarf an neuen Therapien sehr hoch ist, oder es noch keine Vergleichstherapien gibt, wenige Patientinnen betroffen sind bzw. wenn es stärker um den individuellen Krankheitsverlauf geht. Auch innovative Therapieansätze im Sinne einer Disease Interception hätten es im derzeitigen System schwer. Beispielsweise sagen wir heute: Lebenszeitverlängerung ist das Ziel einer Therapie. Wie will man das unter Disease Interception bemessen? Wenn wir vermeiden wollen, dass Patient*innen auf eine unter Umständen lebensnotwendige Therapie warten müssen, müssen wir innovative Methoden, Studiendesigns und Endpunkte zulassen, natürlich ohne Kompromisse bei der Sicherheit und Wirksamkeit.
Bleiben eigentlich wegen Corona in anderen Bereichen Fortschritte aus, weil sich Pharma auf ein Virus konzentrieren muss?
Natürlich bindet die Entwicklung und Produktion des Covid-19-Impfstoffs bei allen Beteiligten viele Ressourcen. Aber: Andere Erkrankungen sind natürlich nicht verschwunden. Parallel zu unserem Engagement gegen Covid-19 haben wir nie aufgehört, an neuen Therapien zu forschen, etwa in den Bereichen Onkologie, Neurowissenschaften oder der pulmonalen Hypertonie. Trotz des öffentlichen Fokus auf Covid-19 geht die Entwicklung voran. Ich sehe da keine Verlangsamung, im Gegenteil. Wie eingangs gesagt: Die Erfahrungen mit Covid-19 in puncto Agilität und Beschleunigung spricht sehr dafür, dass wir auch in anderen Bereichen schneller vorankommen.