Die Paracelsus-Kliniken Deutschland nutzen die Neugestaltung der digitalen Infrastruktur, um auch das Wissensmanagement zu digitalisieren. Das mindert die Haftungsrisiken des Managements erheblich und spart nebenher noch Geld. Am meisten aber profitiert die Belegschaft von dem Modernisierungsschub. Eine Fallstudie mit Lerneffekt.
Von Simon Richter
Eine Pandemie hätte es wahrlich nicht gebraucht, um Deutschlands Krankenhäuser in den allgemeinen Veränderungsmodus zu versetzen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte mit 16 Reformen seit Beginn der Legislatur den Wandel zum Dauerzustand ausgerufen. Den privaten Klinikbetreiber Paracelsus drückten da bereits ganz andere Sorgen. 2017 musste die Kette mit 35 Einrichtungen Insolvenz anmelden. Inzwischen ist das Verfahren beendet, gehört das Unternehmen dem Schweizer Investor Porterhouse, sind Führungsposten neu besetzt – doch die Umbauarbeiten dauern an. Der Digitalisierung kommt hierbei gleich in zweierlei Hinsicht eine Schlüsselrolle zu: Einerseits, so ist es branchenübergreifenden Analysen zu entnehmen, erhöht die Digitalisierung zusätzlich den Druck auf Strategie und Geschäftsmodell. Andererseits kann die Digitalisierung einen positiven Beitrag zur Sanierung leisten. Fast zwei Drittel der Befragten aus der jüngsten Restrukturierungsstudie von Roland Berger beispielweise halten die Einführung neuer digitaler Instrumente für nützlich im Restrukturierungsprozess.
So wollen auch die Paracelsus Kliniken Deutschland (PKD) aus der Not eine Tugend machen. Bereits Anfang 2018, kurz nach der Übernahme, sagte Porterhouse-CEO Felix Happel im „Spiegel“: „Paracelsus soll in Zukunft auch für digitale Kompetenz stehen. Daher wird in Digitalisierung investiert.“ Das Wirtschaftsmagazin „Capital“ sprach im Sommer 2020 von einem „Höllenritt“. Ein komplett neues Team solle aus den noch vor wenigen Jahren insolventen Paracelsus Kliniken eine moderne Krankenhauskette machen – mit digitalen Abläufen und einer völlig neuen IT-Infrastruktur. PKD war ein sehr standortspezifisch geführtes Unternehmen, in dem klinikübergreifende Synergien lange überhaupt nicht im Fokus standen. „Jeder Standort hatte alles selbst, bis hin zu 20 verschiedenen Mailserver. Es war die Hauptherausforderung, eine gemeinsame Basis zu schaffen und zu vernetzen, um miteinander besser kommunizieren zu können“, beschreibt Fabian Pritzel, der PKD Geschäftsführer für Technologie- und Innovationsmanagement, die Ausgangslage im „Capital“-Interview. „Wir haben uns schnell das Thema Identity- und Accessmanagement vorgenommen: Über die einzelnen Mailsysteme wurde ein gemeinsames System gehängt. Nur so konnten wir jedem Mitarbeiter eine eigene digitale Identität und Erreichbarkeit geben.“ Das Identity- und Accessmanagement ist heute die Basis, um weitere digitale Services zentral der Belegschaft zur Verfügung zu stellen – beispielsweise auch eine Online Lernplattform für alle Berufsgruppen.
Digitales Lernen hatte schon vor Corona begonnen, die strategische Personalentwicklung und das Employer Branding der Krankenhäuser zu verändern. Spätestens aber seit den umfassenden Kontaktverboten erlebt das Wissensmanagement auch im Gesundheitssektor einen rapiden Digitalisierungsschub. Das Virus hebt die innerbetriebliche Bildung regelrecht auf ein neues Niveau. Von den Vorzügen musste Susanne Blinn nicht lange überzeugt werden. Die Leiterin des Zentralen Dienstes Qualität bei PKD kennt genügend Studien, die das Sparpotenzial von E-Learning gegenüber Präsenzschulungen herausarbeiten. Um 18 PKD-Standorte zuverlässig und zeitnah mit Fachwissen und Pflichtunterweisungen zu versorgen, bleibt eigentlich keine Alternative zu einer Onlinelösung. Eine eigene Redaktion aufzubauen oder gar intern eine Lernplattform zu entwickeln kam für Blinn zu keinem Zeitpunkt infrage. Konzentration auf Kernkompetenzen bedeutet bei PKD, Patienten zu versorgen, und nicht etwa klassische Verlagsarbeit zu übernehmen.
Blinn begibt sich Ende 2019 auf die Suche nach einer Plattform, die es ihr ermöglichen soll, Wissen zeitsparend und intelligent an 4500 Mitarbeiter auszuliefern. Seit Herbst 2020 versorgt das auf die Gesundheitsbranche spezialisierte Lernmanagementsystem (LMS) von TUTOOLIO die Paracelsus Kliniken mit dem Profiwissen diverser hochkarätiger Kurs-Produzenten. Zwischen Ende 2019 und dem Rollout der Lernplattform, lernt Blinn allerdings selbst einiges dazu – über den technischen Anspruch etwa, den mancher E- Learning-Anbieter für zukunftsfähig erachtet, über die Nonchalance, mit der bisweilen alte Inhalte ohne didaktischen Anspruch zweitverwertet werden – und auch über interne Prozesse, die es vor Einführung einer Wissensplattform zu definieren gilt.
Am Anfang steht der Anforderungskatalog: Susanne Blinn definiert mit ihrem Team Kriterien für die Kursqualität. Parallel sammelt sie hausintern Anforderungen zur IT, Usability, Administration und Datensicherung. Der Katalog wächst rasend schnell und Blinn wird zur Pendeldiplomatin: Redaktionell Erforderliches bespricht sie mit den Themenverantwortlichen etwa aus dem Daten- oder Arbeitsschutz, das technisch Machbare bekommt sie aus der IT vorgegeben und beides zusammen klärt sie in unzähligen Besprechungen mit den Betriebsräten ab.
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Mit dem „intelligenten Einsatz“ jedoch hapert es bei den meisten Angeboten, die Blinn ins Haus flattern. Oft entspricht der Content nicht den zuvor formulierten PKD- Anforderungen. Zwar gibt es Verlage mit hoher Themenexpertise und etablierten Autoren. Diese tendieren aber meist dazu, Content aus Büchern, Magazinen und Websites ohne grundlegende redaktionelle Überarbeitung einer digitalen Zusatzverwertung zu unterziehen – alter Wein in neuen Schläuchen. „Manche Anbieter haben regelrechte Content Wiederaufbereitungsanlagen erfunden“, wundert sich Blinn. „Da geht es leider weder um Usability noch um lerngerechtes Aufbereiten.“ Für PKD stünde aber fest: Kurse müssen responsiv sein, um auf den gängigen Endgeräten reibungslos zu laufen. Sie müssen zudem mit interaktiven Elementen gespickt sein, um den Lerneffekt und die Freude bei der Anwendung zu steigern. Nur mit explizit für digitales Lernen aufbereitetem Inhalt würde PKD die hochgesteckten Lernziele erreichen. Das Internet bietet zwar eine Fülle deutschsprachiger E-Learnings für den Gesundheitsapparat. Doch für Blinn reduziert sich die Auswahl schnell auf einen überschaubaren Kreis von Unternehmen, die überhaupt für inhaltliche und redaktionelle Qualität stehen.
Blinn erkannte: Es gibt am E-Learning-Markt tatsächlich Profis für den Pflegebereich, ebenso für die Medizin. Und auch für krankenhausspezifische Pflichtunterweisungen haben sich Anbieter herausgemendelt. Der Wermutstropfen allerdings: „Wir gewinnen die Akzeptanz in allen Berufsgruppen nur, wenn wir auch für jede Berufsgruppe adäquate Inhalte anbieten“, so Qualitätsmanagerin Blinn. Intern legt PKD deshalb sogar das Projekt „Smartphone“ auf. Jeder Angestellte erhält ein eigenes Diensthandy. Entsprechend müsse der E-Learning-Dienstleister auch für jeden Kollegen Lerninhalte bereitstellen.
Die Realität ist diesbezüglich leider ernüchternd. Kein Verlag bietet für mehrere Zielgruppen gleichermaßen Qualitäts-Content. Deshalb besteht Blinn darauf, dass die Lernplattform Content unterschiedlicher Produzenten ohne großen Zeitaufwand einbinden und ausspielen kann. Blinn recherchiert weiter: Offenbar reichen die bekannten Anbieter ihre zielgruppenspezifischen Inhalte bevorzugt in verlagseigenen, handgestrickten Lernmanagementsystemen aus. Übertragen auf die alte Lern-Ökonomie mit gedruckter Literatur würde das bedeuten, dass ein Buchverlag ein Lehrbuch nur verkauft, wenn der Kunde auch sogleich ein ganzes Regelwandsystem mitbestellt. Für Kliniken bedeutet das konkret, dass man für jede Berufsgruppe und jedes Teilproblem wie etwa Datenschutz, Medizinprodukteeinweisung oder Pflegefortbildung eigenständige Plattformen mit individuellen Log-ins anbinden muss – das glatte Gegenteil von Fabian Pritzels im „Capital“-Interview erläuterter Philosophie einer gemeinsamen Basis, die standortübergreifend vernetzt.
Für PKD bedeutet dies, dass nur ein System infrage kommt, das offen ist für die besten Inhalte der Branche und somit dem Klinikkonzern ein Höchstmaß an Flexibilität im Lernen ermöglicht. Damit fällt im Frühjahr 2020 eine Vorentscheidung zugunsten von TUTOOLIO, denn keine andere Plattform macht es derart leicht, externe Inhalte und auch Applikationen zu integrieren. Die Sommerwochen bis zum Roll-out stehen im Zeichen der technischen Integration von LMS und der PKD-internen Programme. Parallel stimmt Blinn den Einsatz des neuen Bildungsangebots mit dem Betriebsrat ab.
Inzwischen denkt Susanne Blinn schon an die Zukunft. Mit TUTOOLIO arbeitet sie an den nächsten Ausbaustufen des Systems. Jetzt, da die Kollegen mit dem LMS vertraut sind, kann man den Lerneffekt mit zusätzlichen Spaßfaktoren verbinden – Stichwort: Gamification. Ein virtueller Classroom, den sich einige Mitarbeiter wünschen, steht ebenfalls zur Diskussion. Dabei könnte entweder Microsoft Teams eingebunden werden, das PKD-weit bereits im Einsatz ist, oder die bestehende Konferenz-Technik von TUTOOLIO genutzt werden. In beiden Fällen wäre PKD gewappnet, um auch Blended-Learning-Konzepte auszurichten, was im Umgang mit Patienten und anspruchsvollen Geräten zunehmend an Bedeutung gewinnt. Gemeinsam mit TUTOOLIO will Blinn auch eine E-Learning-Reihe für das Qualitätsmanagement erstellen. Dann kann die Digitalisierung einen weiteren Beitrag zur Restrukturierung leisten. Denn mit den gemeinsam erstellten Kursen würde PKD auf dem Marktplatz von TUTOOLIO sogar Geld verdienen.