New Work: Die meisten Unternehmen scheitern am Wandel der Arbeitswelt

New Work ist in aller Munde. Doch tatsächlich schaffen es Unternehmen noch nicht, den Geist einer neuen Arbeitswelt in ihrer Organisation zu verankern. Der Initiator der Bewegung wirft ihnen Scheinheiligkeit vor. Trotzdem setzt sich der Trend fort.

Von Prof. Dr. Andreas Braun und Jakob Mair

Vor ein paar Jahren machte der Chef der britischen Venture-Capital-Firma Virgin, Sir Richard Branson, ein Experiment der besonderen Art. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Londoner Headquarters sollten sich für einen Tag wie ganz „normale“ Angestellte verhalten: Sie mussten sich in adrettes Business Outfit kleiden, pünktlich um 9 Uhr im Büro erscheinen und sich während des gesamten Tages mit Titel und Nachnamen ansprechen. Musik am Arbeitsplatz war verboten, private Telefonate ebenso. Und Internetsurfen war nur in der Mittagspause gestattet. Das Ziel der Übung sei es gewesen, so gab Branson später in einem Interview mit der BBC zu Protokoll, den Mitarbeitern einen Eindruck zu vermitteln, wie ein Großteil der Welt noch immer geführt werde.

Was Branson als „eine für alle schreckliche Erfahrung“ bezeichnete, ist immer noch Alltag für einen nicht geringen Teil der arbeitenden Bevölkerung. Keine Frage: Die Situation hat sich in den vergangenen 100 Jahren verbessert. Ein Rückblick: Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Frederick Taylor die Idee des Scientific Managements. Der „Taylorismus“ verfolgte das Ziel, die menschliche Arbeitskraft – im Sinne des Unternehmens – möglichst produktionssteigernd auszunutzen. Taylor begriff dabei den arbeitenden Menschen als reinen Produktionsfaktor, der kleine, wohl definierte Arbeitsschritte nach einem festgelegten Muster immer und immer wieder zu verrichten hat. Sinnbildlich für diese Form der Akkord- arbeit steht Charlie Chaplin, der im Film „Modern Times“ aus dem Jahr 1938 mit der Geschwindigkeit des Fließbands nicht mehr standhält, von der Maschine irgendwann verschluckt und leicht verwirrt wieder ausgespuckt wird.

Das Gegenmodell zu dieser entmenschlichenden Form der Arbeit entwickelte in den 1980er-Jahren Frithjof Bergmann. Seine Erfahrungen als Fließbandarbeiter in der langsam kollabierenden US-Autometropole Flint/Michigan gipfelten in zwei zentralen Forderungen: Lohnarbeit abschaffen und Selbstbestimmung erhöhen! Die Menschen sollen einer Arbeit nachgehen, die ihnen dient – und nicht sie der Arbeit. Wenn Menschen den Freiraum bekommen, sich selbst zu entdecken, werden sie ihn nutzen.
Was als radikales Konzept entwickelt wurde, ist als „weichgespültes“ Organisationskonzept in der Wissenschaft und in Unternehmen angekommen als Lightversion – weit weg von Taylor, aber längst nicht bei Bergmann. Heute wird New Work eher als von Bergmann inspirierter Terminus genutzt, der im Kern vier Themen beschreibt: (1) die Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort, (2) neue Bürokonzepte, (3) Agilität und Individualität sowie (4) Veränderungen in der Mitarbeiterführung. Solche Konzepte kommentierte Bergmann längst in einem Interview: „Heute macht man vielerorts nur die Lohnarbeit attraktiver, sympathischer und netter. Es ist Lohnarbeit im Minirock.“

Wirklich angekommen ist Bergmanns Ansatz also in der Praxis nicht. Laut Gallup-Studie aus dem Jahr 2018 gaben fast 15 Prozent der Befragten an, ihren Job bereits innerlich gekündigt zu haben. Weitere 70 Prozent machen nur noch Dienst nach Vorschrift. Nur 15 Prozent der Beschäftigten gehen ihrer Arbeit „mit Hand, Herz und Verstand nach“, wie es in der Pressemitteilung heißt.
Was sich bisweilen hinter dem modernen Label der Flexibilität verbirgt, illustriert zum Beispiel das neue Europäische Gesetz zur grundsätzlichen allgemeinen Arbeitszeiterfassung. Die Zeiterfassung schien vielerorts ein Relikt tayloristischen Kontrollwahns zu sein. In den vergangenen Jahrzehnten flexibilisierten sich Arbeitsformen mehr und mehr zu vermeintlich moderneren, flexiblen Konzepten: Gleitzeit, Vertrauenszeit oder Homeoffice schienen Bergmanns arbeitnehmerfreundlicher Vision näher zu kommen. Jetzt forderten vor allem Arbeitnehmerverbände das exakte Monitoring wieder ein – um Ausbeutung und übermäßigen Überstunden vorzubeugen. So erlebt Taylors Erbe heute ein paradoxes Revival, diesmal zum Schutze der Beschäftigten.

Viele individualisierte Büro- und Arbeitskonzepte verzahnen bisweilen sogenannte New-Work-Ideen mit den kontrollierenden Zügen des Scientific Managements. So fanden Wissenschaftler der Harvard Business School heraus, dass in offenen Großraumbüros entgegen allen Erwartungen rund 70 Prozent weniger direkte Gespräche stattfinden und stattdessen um 20 bis 50 Prozent vermehrte Kommunikation über digitale Dienste abläuft. Die neuen Technologien vernetzen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer allgegenwärtig und scheinen dabei vordergründig mobil, individuell und bequem den Arbeitsalltag zu bereichern, indem sie zum Beispiel von der physischen Anwesenheit bei Meetings befreien. Auch Bergmann betont immer wieder explizit die Potenziale der Digitalisierung für die New-Work-Bewegung. Automatisierung und riesige selbstorganisierende Systeme versprechen offenen Zugang, Teilhabe und Mündigkeit.

Dieser Euphorie entgegen warnen Studien aber bereits vor einem „digitalen Taylorismus“, der dank Tracking und automatischer Datenverarbeitung immer rigidere, subtilere Formen der Überwachung und Steuerung ermöglicht. Das begann bereits vor langer Zeit bei simpel nachzuvollziehenden Zeit- und Datumsauskünften in E-Mails, entwickelte sich zur ständigen Erreichbarkeit durch Smartphones, weiter zur Lesebestätigung im informellen Teamchat und geht irgendwann bis zum Monitoring von Bewegungsmustern und möglicherweise sogar körperlichen Funktionen durch alltagserleichternde Smart Devices.
Schlussendlich können durch automatisierte Rückkopplungen (Feedback) auch operative Entscheidungssysteme (Manager) mehr und mehr in ihrem Handlungsspielraum beschnitten und bisweilen sogar gänzlich überflüssig werden. In den rationalen Geschäftszweigen erfassen und verdichten Artificial Manager bereits seit den frühen 80er-Jahren Daten zu Entscheidungen, die kein Managementteam der Welt mehr nachvollziehen kann. Mit der Tiefe der Daten veränderten sich nun auch die Möglichkeiten der Eingriffe.

Wie einschneidend auch soziale Funktionen, also echte Führungsarbeit, durch agile Systeme übernommen wer
den können, deutet eine Anwendung des größten Hedgefonds der Welt an: 2017 verpflichtete Bridgewater Associates CEO und Gründer Ray Dalio seine Beschäftigten zur Installation der App namens Dots, über deren Interface sich Angestellte in 99 Kategorien gegenseitig bewerten können. In totaler Transparenz führen und kontrollieren sich Beschäftigte in Zukunft durch den sozialen Druck der gleichberechtigten Schwarmintelligenz selbst und künstliche Manager können durch den Abgleich riesiger Performance-Datensätze die gläsernen Angestellten individuell angepasst und unvermittelt loben, motivieren, versetzen oder auch verwarnen.

Entgegen Bergmanns Optimismus scheint die rasant fortschreitende digitale Transformation bislang hingegen eher negative Auswirkungen auf die Psychohygiene vieler Beschäftigten zu haben. Mit über 90 Millionen Arbeitsunfähigkeitstagen allein durch psychische Erkrankungen im Jahr 2018, hat sich diese Zahl laut Bundesamt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin seit 2005 mehr als verdoppelt. Eine Studie der Universität St. Gallen aus dem Jahr 2019 führt 20 Prozent der emotionalen Erschöpfungszustände direkt auf digitale Überlastung am Arbeitsplatz zurück. Jüngere Beschäftigte sind demnach sogar vermehrt betroffen, was andeuten könnte, dass die viel zitierten Fähigkeiten der Digital Natives keinesfalls die psychologischen Anpassungsschwierigkeiten an eine agile Arbeitswelt lindern.

Der Weg zur neuen Arbeit ist für Bergmann immer mit einer gesellschaftlichen Bewegung verbunden. Eine Revolution der Arbeit, die sich nur im Kontext kultureller Entwicklungen verstehen und moderieren lässt. Die New-Work-Kultur will Beschäftigten die Möglichkeit geben, herauszufinden und zu verfolgen, „was sie wirklich, wirklich wollen“. Ein Verweilen in unbefriedigenden Arbeitsverhältnissen führt der heute 89-Jährige, immer noch geistesklare charismatische Führer der Bewegung, auf eine erlernte „Armut der Begierde“ zurück. Die Betroffenen ertragen ihre ungeliebte Lohnarbeit „wie eine milde Krankheit“. Der hochbegabte Princeton-Absolvent spart aber leider die dringende Frage aus, ob wohl auch ausreichend viele Menschen die Begierde in sich entdecken würden, „wirklich, wirklich“ als Reinigungskraft oder Klempner zu arbeiten. Es bleibt offen, wer die gesellschaftlich wertvollen aber keineswegs in ausreichendem Maße begehrten Berufe in der New-Work-Kultur erledigen soll, von der fernen Utopie omnipotenter Robotik mal abgesehen. Schon 2019 blieben laut Bundesagentur für Arbeit bereits 200.000 Ausbildungsstellen unbesetzt – in Zeiten des Fachkräftemangels erhält man also bereits einen Vorgeschmack darauf, wie schwierig es sein kann, unattraktive Jobs zu besetzen.

Bergmann und seine Ideen sind geprägt vom ‚Luxus‘ in über 20 verschiedenen Jobs und Branchen gearbeitet zu haben, bevor er schließlich als Professor für Philosophie und „New Work Guru“ seine Berufung fand. Heute scheinen offene Erfahrungsräume und Ressourcen um das „wirklich, wirklich Gewollte“ zu erkunden, allerdings nicht unbedingt allzu hohe gesellschaftspolitische Priorität zu genießen. Stattdessen leidet laut des Präventionsradars der DAK-Gesundheit aus dem vergangenen Jahr schon fast jedes zweite Schulkind in den Klassen 5 bis 10 unter Stress und Leistungsdruck. Durch Bologna-Reform und die Verkürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre bieten sich insgesamt weniger Möglichkeiten auszuscheren, um noch vor dem Berufseinstieg andere Lebenskonzepte und Denkweisen kennenzulernen. Bergmann bekräftigt an vielen Stellen, wie wichtig neue konkrete Erfahrungen sind, um der Armut der Begierde zu entfliehen. Der wachsende Trend zur frühen Spezialisierung und Einübung in die berufliche Praxis auch in den „akademischen Berufen“ läuft dem zuwider und grenzt die Potenziale diversifizierter Erfahrungen vorschnell aus.

Es wäre ungerecht, Bergmanns Vision lediglich am arbeitskulturellen Status quo zu messen. Und es gibt positive Gegenbeispiele, die versuchen einer New-Work-Kultur zu entsprechen: Organisationen, die mit hoher Mitbestimmung der Beschäftigten soziale Konzepte einer neuen Arbeitswelt zu verwirklichen suchen. Ermutigende Forschungsergebnisse zur Produktivitätssteigerung bei gleichzeitig verringerter Arbeitszeit. Dazu eine verbreitete Diskussion über bedingungslose Grundeinkommen, unternehmerische Nachhaltigkeit und Selbstentfaltung im Arbeitsleben.

Soziale Verantwortung lässt sich heute nicht mehr so einfach durch einfühlsame Pressemitteilungen und geschicktes Marketing simulieren. Kundschaft und Beschäftigte sind anspruchsvoller und mündiger geworden. Die jungen Generationen lassen sich immer weniger allein mit Status- und Karriereanreizen gewinnen. Sie bevorzugen stattdessen eine ausgewogenere Work-Life Balance und suchen immer mehr nach gesellschaftlich wertvoll erlebter Arbeit. Ähnliches hat auch Bergmann erlebt, wenn er sich mit Beschäftigten auf die Suche nach deren wirklichen Begierden machte.

Noch scheint die Mehrheit der unternehmerischen Versuche eine halbgare New-Work-Kultur zu etablieren, die oft noch weit entfernt liegt von Bergmanns Idee einer alternativen Bewegung. Der geistige Vater des Konzeptes machte 2017 auf dem Kongress eines großes Online-Arbeitsnetzwerkes in Berlin keinen Hehl aus seiner Kritik an den vielerorts scheinheiligen Versuchen seine Vision zu imitieren. Doch seine ewige Bereitschaft zum Dialog lebt vor, dass eine neue Arbeitskultur nur als gemeinsamer Entwicklungsprozess zu erreichen ist. Es wird spannend sein zu beobachten, welche Vorstellungen von Arbeit die Kultur der Zukunft prägen werden. Taylors und Bergmanns Gedanken sind weiter aktuell. Die Zeit für Konzepte, die Wege in Zielrichtung einer neuen Arbeitswelt aufzeigen, scheint angebrochen.

Dr. Andreas Braun ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der BSP Business School Berlin und Geschäftsführer des Innovation Hub Institute Berlin – New York. Seine Forschungsschwerpunkte sind (Open) Innovationsmanagement, Geschäftsmodellinnovationen und Digitale Transformation. Er lebt und forscht derzeit in New York.

Jakob Mair ist selbstständiger Organisationsberater und Coach in Berlin. Außerdem arbeitet er als Dozent für Organisations-, Markt- und Medienforschung an der BSP Business School Berlin.