Der Niederländer Jos de Blok hat im Jahr 2006 die Organisation Buurtzorg gegründet. Übersetzt bedeutet der Name Nachbarschaftshilfe und verrät wie das System funktioniert: Rund 10.000 Krankenschwestern und Pfleger sowie 4.000 Sozialarbeiter kümmern sich um ihre Nachbarn – und organisieren sich selbst. Kann sowas in Deutschland auch funktionieren?
Interview: Anna Friedrich
Herr de Blok, vor 14 Jahren haben Sie Buurtzorg gegründet. Wie funktioniert das Modell der Nachbarschaftspflege genau?
Wir arbeiten mit sogenannten Community-Nurses, also Krankenschwestern und Pflegern, die jeweils eine Nachbarschaft betreuen. Buurtzorg ist also eine Art mobile Pflege, die auf dem Prinzip der Selbstorganisation beruht. Wir haben zwar ein kleines Backoffice mit 40 Leuten, doch die Krankenschwestern und Pfleger agieren autonom.
Was heißt das konkret?
Wer sich um die Gesundheit anderer kümmert, agiert aus unserer Erfahrung heraus sowieso sehr autonom. Unsere Krankenschwestern und Pfleger bauen sich selbst ein Netzwerk aus Ärzten, Apothekern und so weiter auf, mit deren Hilfe sie ihre Patienten optimal betreuen können. Jede Community-Nurse kann selbst entscheiden, mit wem sie zusammenarbeitet, hat einen festen Patientenstamm in ihrem Ort und stellt sich ihren Tagesplan selbst zusammen. Jede entscheidet dabei selbst, was der Patient braucht, wie der Pflegeplan aussehen soll. Die Pflegestunden werden dann der Krankenversicherung in Rechnung gestellt.
Wie sind Sie auf das System gekommen?
Ich habe 14 Jahre lang als Krankenpfleger gearbeitet. Bis 1994 war ich bei einer niederländischen Gesundheitsorganisation als Community-Nurse angestellt, doch dann hat die Regierung das System geändert. Statt dezentraler Organisation, bei der jeder Ort eine eigene Community-Nurse für alle anfallenden Aufgaben hatte, zentralisierte die Regierung das System, setzte auf traditionelle Management-Modelle und Skaleneffekte. Jede Krankenschwester und jeder Pfleger war nur noch für eine Aufgabe zuständig, was dazu führte, dass ein Patient von zig Personen behandelt wurde.
Im Deutschland läuft das heute ähnlich. Statt Pflegestunden rechnen Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern ihre Leistungen als Einzelposten ab. Das macht es doch quasi unmöglich, mit dem Buurtzorg-System zu arbeiten, oder?
Sagen wir es so: Es ist mit deutlich mehr bürokratischem Aufwand verbunden. Aber es muss sich ja nicht direkt das ganze System ändern. Stattdessen können kleine Teams oder Abteilungen selbstorganisiert arbeiten und zeigen: Es geht, wir müssen nur umdenken. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass gute Pflege dann funktioniert, wenn Krankenschwestern und Pfleger volle Autonomie in ihrer Arbeit haben. Die Arbeit ist dann nämlich nicht an finanziellen Kennzahlen ausgerichtet, sondern an intrinsischer Motivation. Wer Freiheit in seiner Arbeit genießt und selbst gestalten kann, liefert bessere Resultate. Statt Hierarchien stehen die Netzwerke innerhalb der Nachbarschaften im Vordergrund.
Ist Selbstorganisation auch für andere Gesundheitseinrichtungen denkbar?
Auf jeden Fall. Nehmen wir zum Beispiel eine Notaufnahme: Dort sind Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger sowieso schon sehr flexibel und super organisiert. Sie stellen Schichtpläne auf, reagieren auf unvorhergesehene Ereignisse und verteilen die Arbeit untereinander so, dass der Patient bestmöglich behandelt wird. Diese Befehle kommen nicht vom Management – da wäre eine komplette Selbstorganisation nur der nächste logische Schritt. Letztlich braucht es nicht einmal immer den Chefarzt, der Ansagen macht und Aufgaben verteilt. Solche Teams sind routiniert und kennen ihre Rollen und Aufgaben. Prinzipiell funktioniert das System im gesamten Gesundheitsbereich.
Wie können Unternehmen Selbstorganisation integrieren?
Am Anfang muss man die Prozesse analysieren. Wie sieht die tägliche Routine aus? Wer erledigt welche Aufgaben? Am besten ist es, mit einer Testgruppe anzufangen, die unabhängig vom Rest des Unternehmens arbeitet. Das Team sollte losgelöst von allen Strukturen der Firma sein, ein eigenes Unternehmen im Unternehmen quasi. Das ist auch für das Management eine Herausforderung. Um die Selbstorganisation intern wirklich auf den Prüfstand zu stellen, dürfen sich die Manager nicht einmischen, und die Mitarbeiter einfach machen lassen. Das ist leichter gesagt als getan, weil Selbstorganisation ein neues Denken, ein neues Verhalten erfordert.
Und dann funktioniert das einfach so?
Man muss das natürlich kommunikativ begleiten. Wer einem Team sagt: Ab sofort organisiert ihr euch selbst, wird keinen Erfolg haben. Manager sollten lieber fragen: Was braucht ihr, damit ihr selbstorganisiert arbeiten könnt? Viele Führungskräfte sind es nicht gewohnt, die Mitarbeiter nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Sie glauben, HR-Tools, IT-Systeme und Finanzstrukturen sind die Lösung. Aber tatsächlich sind es Autonomie und Selbstverantwortung in der täglichen Routine, die den Unterscheid machen.
Was ist, wenn sich das Vertrauen in die Mitarbeiter nicht auszahlt?
Viele Manager glauben, dass ihnen ihre Art der Führung mehr Kontrolle verleiht, als wenn das Team sich selbst organisiert. Das ist ein Trugschluss. In der Selbstorganisation kontrollieren sich die Akteure selbst, aber eher als Soft-Kontrolle. Selbstorganisation hat etwas mit Reflektion zu tun und das ist viel wichtiger als Management-Kontrolle. Eine offene Kultur, in der sich jeder sicher fühlt und sein Verhalten reflektiert, ist viel wichtiger als Risikomanagement. Wer Vertrauen erhält, identifiziert sich stärker mit seinen Aufgaben und macht letztlich bessere Arbeit. Das zeigen auch Analysen unseres Unternehmens: Seit unserer Gründung im Jahr 2006 sind sowohl Patienten als auch Community-Nurses höchst zufrieden. Unsere internen Befragungen zeigen, dass wir einen Wert von 9.4 von maximal 10 Punkten auf der Zufriedenheitsskala erreichen.
Ist Ihr Modell also DIE magische Lösung, um das Gesundheitssystem zu revolutionieren?
Die Lösung ist nicht magisch. Wir sollten nicht über Organisation nachdenken, sondern darüber, wie wir Leute
gesund machen und gesund halten können. Je einfacher das System und je mehr Selbstverantwortung da ist, desto besser ist die Beziehung zwischen den Patienten und dem Pflegepersonal – und desto besser sind natürlich auch die Ergebnisse. Leider sind Gesundheitssysteme, egal in welchem Land, hochkomplex und mitunter sehr bürokratisch – nicht nur auf das Personal bezogen, sondern auch auf Buchhaltung und Abrechnung. Die Systeme basieren darauf, dass Menschen schnell den Überblick über Systeme verlieren, die zu komplex werden. Das ist ein Trugschluss unter dem am Ende die Patienten leiden. Deshalb ergibt es Sinn, kleine autonome Einheiten zu schaffen, die sich selbst verantworten.
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