Modern führen heißt dienen, sagt Maike Andresen, Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Personalmanagement und Organizational Behaviour an der Universität Bamberg. In einer sich schnell wandelnden Arbeitswelt sei das alte Führungsverständnis längst überholt. Führungskräfte müssten größere Teams führen, und dafür mehr Verantwortung mit den Mitarbeitern teilen. Vor allem in Zeiten der Coronavirus-Krise wird das zunehmend relevant.
Interview: Nina Bärschneider
Frau Professor Andresen, in modernen Unternehmen weichen Hierarchien immer weiter auf. Braucht man überhaupt noch Führungskräfte?
Unabhängig davon, wie viele Hierarchieebenen eine Organisation hat, wird man immer Führungskräfte brauchen. Es ist wichtig, dass es eine Person gibt, die eine Vision und Strategieausrichtung hat. Es braucht jemanden, der koordiniert und das Risiko abwägt. Moderne Führungskräfte haben die übergreifenden Ziele im Blick, treffen Entscheidungen – aber nicht mehr allein. Schließlich sind Mitarbeiter die eigentlichen Experten für ihre jeweiligen Aufgaben. Deshalb sollten sie auch stärker mitbestimmen können, auch wenn sie dabei eine andere Meinung als der Abteilungs- oder Teamleiter vertreten. Das lässt sich mit einem Orchester vergleichen: Der Dirigent weiß, wie das Stück klingen soll, aber die Experten für die einzelnen Instrumente sind die Musizierenden. Der Dirigent, also die Führungskraft, gibt dann vielmehr die große Vision, die großen Ziele vor. Eine gute Führungskraft erklärt ihren Geführten immer wieder Sinn und Notwendigkeit ihrer Aufgaben und deren Einordnung in den Gesamtzusammenhang.
Für eine gelungene moderne Führung sind also nicht nur die Führungskräfte in der Pflicht.
Genau. Durch die flachen Hierarchien fallen viele Führungspositionen weg. Damit wächst die Gruppe der Geführten – Führungskräfte sehen sich also größeren Teams gegenüber. Damit ihnen das nicht zu viel wird, müssen leitende Mitarbeiter zwangsläufig Aufgaben abgeben. So übernehmen auch die Mitarbeiter eine größere Verantwortung.
Wie wichtig ist soziale Kompetenz, um diese Transformation erfolgreich durchsetzen zu können?
Tatsächlich spielt die Beziehungsebene zwischen Führungskraft und Mitarbeiter in modernen Unternehmen eine immer größere Rolle. Deutschland hat hier noch Nachholbedarf, zeigt das internationale Forschungsprojekt GLOBE: Unsere Führungskräfte konzentrieren sich sehr stark auf die Aufgaben, weniger auf diejenigen, die sie ausführen. Hinsichtlich der Beziehungsorientierung belegte Deutschland in der GLOBE-Studie den letzten Platz. Dabei brauchen wir jetzt eine beziehungsorientiertere Führung, weil Führungskräfte ihre Mitarbeiter viel stärker in Entscheidungen einbinden. Wir brauchen ein sogenanntes „Servant Leadership“: Führungskräfte sind heute „Dienende“, die versuchen, die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter zu ergründen – und ihnen helfen, autonomer zu arbeiten und ihre Talente zu entwickeln. Wie wichtig das ist, zeigt aktuell die Coronavirus-Krise: Führungskräfte müssen ihre Mitarbeiter dazu befähigen, selbstständig zu arbeiten und eigene Entscheidungen zu treffen, auch wenn der Chef einmal nicht in greifbarer Nähe ist.
Welche Charaktereigenschaften braucht eine Führungskraft, damit das gelingt?
Dafür brauchen Führungskräfte vor allem eine altruistische Berufung, müssen bereit sein, die Interessen der Mitarbeiter über ihre eigenen zu stellen. Auch sollten sie erkennen, wenn Mitarbeiter scheitern oder belastet sind – und dann den Heilungsprozess fördern. Führungskräfte schaffen also eine Umgebung, in der sich ihre Mitarbeiter sicher fühlen und trauen, ihre Bedürfnisse zu äußern. Drittens müssen Führungskräfte fundiert argumentieren können, also Probleme erfassen und Lösungsmöglichkeiten überzeugend darlegen. Die vierte Tugend ist eine gewisse Weisheit: Als Führungskraft sollte ich mir bewusst darüber sein, was um mich herum geschieht, und muss vorausschauend arbeiten können. Das ist gerade in einer Arbeitswelt wichtig, die sich extrem schnell verändert – oder die durch äußere Effekte wie das Coronavirus komplett auf den Kopf gestellt wird.
Einerseits sollen Führungskräfte Mentoren sein und sich in ihre Mitarbeiter einfühlen, andererseits sind sie immer noch ihre Vorgesetzten. Wie schafft man diese Gratwanderung?
Ich glaube, dass das tatsächlich gut machbar ist. Führungskräfte können sich zum einen bemühen, die Bedürfnisse des Einzelnen zu verstehen. Zum anderen beinhaltet ihre Rolle ganz klar, dass sie einen besseren Überblick darüber haben, wie das einzelne Projekt mit anderen Projekten im Unternehmen zusammenhängt. Das ist schließlich im Sinne jedes Mitarbeiters, damit nicht alle die Komplexität erfassen müssen. Damit die Gratwanderung zwischen diesen beiden Aufgaben gelingt, sollten Führungskräfte immer klarstellen, welche Bedeutung ein Projekt für das Unternehmen hat und welche Rolle jeder Einzelne dabei spielt. Nur so fühlen sich Mitarbeiter ernst genommen und sind motiviert, die Ziele der Führungskraft zu erfüllen.
Wie weit geht die Führung auf Augenhöhe: Sollten Chefs künftig zum Beispiel immer mit ihrem Team in einem Raum arbeiten?
Ich plädiere für flexible Arbeitsmodelle. Manch einer will sich zum Arbeiten ab und zu zurückziehen, ein anderer arbeitet gern im Homeoffice. Phasen, in denen alle zusammensitzen, halte ich für sehr gesund, es muss aber nicht immer so sein. Die Corona-Pandemie könnte dazu beitragen, dass sich solch flexible Arbeitszeiten und -orte auch langfristig durchsetzen. Ich würde allerdings kein neues Bürokonzept für eine moderne Führung ableiten wollen.
Als flexibles Arbeitsmodell gilt auch das sogenannte Top-Sharing-Modell. Hierbei teilen sich zwei Personen eine Führungsposition. Wie könnte dieses Führungsverständnis ein Unternehmen transformieren?
Zuerst einmal ermöglicht das Modell eine flexible Arbeitsweise: Personen, die in Teilzeit arbeiten oder anteilig in anderen Projekten mitarbeiten, können gleichzeitig führen. Das ist nicht nur ein Vorteil für die Führungskräfte selbst, sondern auch für ihre Mitarbeiter. Denn ihre Vorgesetzten können sie nun gemeinsam genauer beobachten – Beurteilungen fallen so viel differenzierter aus. Das stärkt die Beziehungsebene, die für eine moderne Führung so wichtig ist. Auch lässt sich mit dem Modell besser auf die Arbeitsweise der Mitarbeiter eingehen: Manche Tandems teilen das Team auf und führen jeweils die Gruppe, die besser zu ihrem eigenen Führungsstil passt. Allerdings kann es die Mitarbeiter natürlich auch irritieren, wenn sich ihre Vorgesetzten im Laufe der Woche abwechseln und sehr unterschiedlich führen. Wichtig ist hier, dass sich die Tandempartner regelmäßig austauschen und eine gemeinsame Linie finden.
Wir wissen nun, wie eine moderne Führung aussieht. Wie sollte es Ihrer Meinung nach nicht laufen?
In manchen Unternehmen gibt es den Ansatz, gar keine Führungskraft mehr einzustellen. Jeder Einzelne soll sich dabei selbst führen. Das Orpheus Chamber Orchestra in Boston etwa hat seinen Dirigenten entlassen und arbeitet seitdem komplett unabhängig. Es ist immer noch erfolgreich, aber die Arbeitsweise kostet sehr viel Zeit: Die Orchestermitglieder müssen sich ständig mit allen Instru- mentalgruppen abstimmen und koordinieren. Zwar bringen sich jetzt auch verstärkt Musiker ein, die sich vorher zurückgehalten haben. Ich glaube jedoch nicht, dass diese Arbeitsweise effizient ist. Es braucht immer jemanden, der das große Bild sieht.
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