Digitale Lösungen einfach selbst bauen, mit nur wenigen oder keinen Programmierkenntnissen. Das sollen Mitarbeiter mithilfe spezieller Software-Plattformen hinbekommen. In Zeiten des Fachkräftemangels kann das IT-Abteilungen entlasten – und Projekte schneller auf die Straße bringen.
von Melanie Croyé
Spätestens seit Beginn der Corona-Impfungen weiß nahezu jeder: Manche Arzneimittel müssen bei niedrigen Temperaturen gelagert werden. Häufig ist das aber ein Problem: Viele Patienten, jedoch auch Logistiker und Lieferanten haben Schwierigkeiten, die Vorgaben einzuhalten. Patienten lagern bis zu 90 Prozent der hitzeempfindlichen Medikamente falsch, hat der niederländische Sensorhersteller AntTail herausgefunden – und eine Lösung entwickelt. Die Firma produziert Zigarettenschachtel große Boxen, die beim Transport alle fünf Minuten mithilfe von Sensoren die Umgebungstemperatur messen und die Daten dann an eine Cloud weiterleiten. So wissen Transportunternehmen, Apotheken oder Patienten genau, ob sie die Lagerbedingungen einhalten.
Sämtliche Informationen laufen in einer App zusammen, die die Daten auswertet und die Informationen an die Anwender sendet. Das Besondere dabei: AntTail hat die App nicht von Grund auf neu programmieren müssen, sondern sie mithilfe einer sogenannten Low-Code-Plattform nach den eigenen Wünschen zusammengebaut. Der Vorteil solcher Plattformen: Anstatt eine Anwendung vollständig selbst zu programmieren, lassen sich einzelne bestehende Anwendungsbausteine auswählen und nach eigenen Vorstellungen zusammenfügen und anpassen. Wer auf diese Art eine neue App baut, kommt daher mit wenig Programmieraufwand aus. Spezielle Programmierkenntnisse brauchten die AntTail-Mitarbeiter daher nicht.
Damit folgt AntTail einem der stärksten Trends in der Softwareentwicklung: Low-Code- oder No-Code-Anwendungen – die sogar ganz ohne Programmierkenntnisse auskommen – ermöglichen Spezialisten, unabhängig von überlasteten IT-Abteilungen eigenständig Anwendungen zu bauen. Unternehmen können dadurch ihre Digitalisierung beschleunigen. Und das wollen immer mehr, prognostizieren die Marktforscher von Gartner: Bis zum Jahr 2025 sollen ihrer Prognose nach rund 70 Prozent aller neuen Anwendungen in Unternehmen mithilfe solcher Bausteine entstehen.
Auch im Gesundheitswesen sind zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten denkbar, berichtet Hans de Visser von der Low-Code-Plattform Mendix, einer Siemens-Tochter. „Unsere Kunden nutzen die Plattform, um ihre Betriebseffizienz zu verbessern, vom Management interner Prozesse über die Automatisierung von komplexen Kalkulationstabellen, von kleineren Applikationen zur Generation von Schnittstellen bis zur Zusammenarbeit mit externen Anbietern.“
Das britische Unternehmen Saga beispielsweise hat mithilfe von Mendix eine App programmiert, mit der Pflegepersonal schneller als bisher an ältere Menschen vermittelt werden soll. Mit der App können Termine automatisiert eingebucht und im Anschluss Abrechnungen erstellt werden. Zudem kann das Pflegepersonal Gesundheitsinformationen über Patienten hinterlegen, was die Kommunikation zwischen Mitarbeitern erleichtert. Saga hatte bisher seinen vorwiegend betagten Kunden vor allem Finanzprodukte, Versicherungen und Reisen verkauft. Nun sahen die Briten die Chance, in den boomenden Pflegemarkt zu expandieren.
Saga hatte die Kontakte zur Zielgruppe, die Erfahrungen im Business – aber kein Know-how beim Programmieren einer solchen Anwendung. Also holte sich das Unternehmen Angebote ein: Die Entwicklung der App sollte 12 Millionen Pfund kosten und drei Jahre dauern. Für Saga war das zu teuer. Also entschied man sich, die App selbst zu bauen. So war der Prototyp nach sechs Monaten fertig – für nur 250.000 Pfund.
Mendix stellt seinen Kunden einen Baukasten mit 88 Millionen kleineren und größeren Mustervorlagen zur Verfügung, die sich dann auf die eigenen Bedürfnisse anpassen lassen – von der Datenbank bis zur Google-Maps-Schnittstelle. „Alleine in den vergangenen fünf Jahren sind die Anwendungen, die über die Plattform gebaut werden, immer komplexer geworden“, sagt Hans de Visser. Auch Systeme, die sensible Daten verarbeiten, wie zum Beispiel zum Tracken von Corona-Test-Ergebnissen oder zur Auswertung klinischer Studien, würden mit Low-Code-Lösungen gebaut. Unternehmen könnten dadurch ihre Produktivität steigern, so de Visser. „Man kann mit denselben Leuten viel mehr aus seiner IT herausholen.“
Die neuen Plattformen sollen die IT-Abteilungen nämlich keineswegs ersetzen. Im Gegenteil: Wenn Mitarbeiter ohne Programmierkenntnisse damit Lösungen entwickeln, halten sie dadurch dem IT-Team den Rücken frei für andere Baustellen. Das sieht auch Frank Termer, Bereichsleiter Software beim Digitalverband Bitkom, so. Aufgaben aus der IT würden an die Anwender delegiert, die mithilfe solcher Plattformen ein Grundgerüst bekommen, das sie als Experten weiterentwickeln können. Low-Code-No-Code-Anwendungen sieht Termer als eine Antwort auf den Fachkräftemangel in der IT. Ende vergangenen Jahres waren mehr als 86.000 IT-Stellen in Deutschland unbesetzt, sieben von zehn vom Bitkom befragten Unternehmern meldeten einen Mangel an IT-Spezialisten. Im Vergleich zu Low-Code-Anwendungen sorgen No-Code-Anwendungen für eine noch größere Entlastung der IT-Abteilung. Mitarbeiter müssen keine Zeile Code schreiben. Stattdessen können die Anwender mithilfe grafischer Oberflächen Bausteine mit wenigen Klicks zusammenbauen. Das geht sogar auf dem Smartphone.
Die Anwendungen, die dabei entstehen, sind entsprechend weniger komplex. Zielgruppe sind kleinere Teams und Abteilungen innerhalb von Firmen. „Der Fokus ist stark auf dem Thema Datenerfassung, jede Art von Klemmbrettvorgängen“, sagt Kathrin Röhrich vom deutschen No-Code-Anbieter Smap-One. „Die gibt es auch im Gesundheitswesen zuhauf.“ In Krankenhäusern fänden sich viele Anwendungsmöglichkeiten, zum Beispiel beim Facility Management. Wann immer Räume oder Geräte gereinigt und desinfiziert werden, muss das dokumentiert werden. Mithilfe von No-Code-Lösungen lassen sich beispielsweise Apps entwickeln, mit denen Mitarbeiter ihre Arbeit dokumentieren, aber auch Mängel erfassen und Fotos hochladen.
Der Medizintechnik-Anbieter Mindray hat mithilfe einer No-Code-Lösung gleich eine ganze Reihe unterschiedlicher Apps gebaut. Mitarbeiter im Außendienst nutzen die Anwendungen, wenn sie Geräte reinigen, warten oder reparieren. An Smartphone, Tablet oder Laptop erfassen die Servicemitarbeiter die Auftragsdaten direkt digital. Diese lassen sich offline in der App eintragen und anschließend als Dokument auf dem Endgerät abspeichern. Mithilfe der App hat Mindray die Nachbearbeitungszeit von Service-Einsätzen vor Ort stark verringert: Indem neben unnötigen Arbeitsschritten auch Materialien gespart werden, erreicht Mindray nach eigenen Angaben pro Servicebericht einen Effizienzgewinn von 75 Prozent. Um die schriftliche Dokumentation zu vereinfachen, können die Außendienstler beispielsweise Nachweisbilder direkt von ihrem Smartphone in das Formular einfügen und den fertigen Bericht sofort versenden. „Als Systemlieferant medizinischer Technologien müssen wir bei Mindray unsere Tätigkeitsnachweise im Außendienst nun nicht mehr zeitverzögert einsammeln oder umständlich einscannen“, sagt Raphael Proß von Mindray Medical Germany. „Stapel an Formularen wurden von smarten Apps auf mobilen Endgeräten abgelöst.“
Die Anwendungen haben aber auch ihre Grenzen. Gerade No-Code-Plattformen können keine großen Lösungen oder gar kritische Systeme abbilden. Darum gehe es aber auch nicht, sagt Kathrin Röhrich von SmapOne. „Wir haben nicht das Ansinnen, SAP zu ersetzen.“ Es gehe um kleinere Prozesse, die oft einen großen Effekt für einzelne Teams hätten.
Auch Bitkom-Experte Frank Termer weiß, dass die Einsatzmöglichkeiten von Low-Code- und No-Code-Anwendungen beschränkt sind. Die Plattformen kämen eben nur mit einem begrenzten Baukasten an Modulen. Je vielschichtiger ein System sei, umso eher müsse die hauseigene IT dieses betreuen oder ergänzen. Dennoch sieht er ein großes Potenzial in der Technologie. „In allen Wirtschaftsbereichen werden händeringend IT-Fachkräfte gesucht. Solche Lösungen entlasten die Abteilungen vor Ort.“
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