Corona zeigt: Die Gesundheitspolitik wird zur zentralen kommunalen Aufgabe. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Erwin Rüddel, Vorsitzender des Bundestags-Gesundheitsausschusses, plädiert für eine Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und will Macht von den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) auf die Kommunen übertragen.
Interview: Stephan Balling
Herr Rüddel, volle Krankenhäuser, überlastete Ärzte und ein überforderter Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD): Haben wir die Daseinsvorsorge in Deutschland zu sehr vernachlässigt? Was lernen wir aus Corona?
Wir lernen, dass wir ein sehr gut funktionierendes Gesundheitssystem haben, ambulant wie stationär. Allerdings müssen wir das Gesundheitswesen weiterentwickeln, insbesondere gilt das für die Zukunftsthemen Digitalisierung und Vernetzung.
Haben wir wirklich einen gut funktionierenden ÖGD?
Der ÖGD hat ein stiefmütterliches Dasein geführt. Er ist zusammengespart worden, wir müssen ihn nun zu neuen Blüten führen. Zwei Dinge haben in der Pandemie eine völlig neue Bedeutung gewonnen: Digitalisierung, Vernetzung und Kommunikation einerseits, der ÖGD andererseits. Die Große Koalition stellt jetzt vier Milliarden für den ÖGD bereit, das wird zwar nicht ausreichen, ist aber ein erster Schritt. Das Geld fließt in den Ausbau der IT-Struktur, in eine bessere Bezahlung und mehr Personal. Vielleicht kann der ÖGD nach der Pandemie auch verstärkt Aufgaben im Bereich der Prävention übernehmen. Wir müssen Gesundheitsprävention vor Ort regional besser fördern. Auch dafür gibt es bereits Fördermittel, die werden aber nicht koordiniert abgerufen. Der ÖGD kann hier die Funktion des Koordinators in der Region übernehmen.
Zeigt die Pandemie nicht, dass die Kommunen überfordert sind, zum Beispiel mit einer stringenten Organisation des ÖGD? Brauchen wir also so etwas wie ein Bundesgesundheitsamt, wie es SPD-Abgeordnete fordern?
Nein, das brauchen wir nicht! Unter den Vorsitzenden der Gesundheitsausschüsse der nationalen Parlamente in der Europäischen Union gibt es einen Konsens, was nun zu tun ist: Der Datenaustausch zwischen den Gesundheitssystemen und insbesondere auch den nationalen und regionalen Gesundheitsämtern muss in ganz Europa besser werden.
Was spricht gegen mehr Steuerungsmöglichkeiten auf Bundesebene im Bereich Public Health?
Wir haben auf Bundesebene umfangreiche Steuerungsmöglichkeiten, ich halte hier die Kompetenzen des Robert Koch Instituts und des Paul-Ehrlich-Instituts für ausreichend. Die Koalition wird aber sicher noch in dieser Legislaturperiode ein Gremium auf den Weg bringen, um den Umgang mit der Pandemie aufzuarbeiten und Lehren daraus zu ziehen, am Ende soll ein Handbuch für die nächste Pandemie stehen. Darin wird es zum einen um standardisierte Verhaltensregeln in bestimmten Pandemie-Situationen gehen, zum anderen aber um eine bessere Vernetzung, zum Beispiel mit den Laboren, damit diese Daten künftig digital übertragen. Dabei geht es auch um einheitliche Standards. Denn Corona hat gezeigt, dass Flickenteppiche in der IT ein Problem sind, insbesondere wenn Definitionen für Schnittstellen fehlen.
Wie lassen sich Krankenhäuser und ÖGD stärker vernetzen?
Die Plattform für eine Vernetzung ist die Telematikinfrastruktur (TI). An die müssen alle angeschlossen werden. Wir stellen jetzt über den Zukunftsfonds 4,3 Milliarden Euro für die Digitalisierung der Krankenhäuser bereit. Das ist angesichts des nötigen Aufholprozesses zwar erst mal ein Tropfen auf den heißen Stein, aber wir setzen Standards, indem das Geld nach Vorbild des Electronic Medical Records Adoption Model (EMRAM) vergeben wird, eines Modells des digitalen Reifegrads. Das wenden wir zwar jetzt nicht zu 100 Prozent an, denn das Geld stammt ja aus dem Konjunkturprogramm und soll schnell im Wirtschaftskreislauf landen, aber die Richtung ist klar: Fördermittel fließen künftig immer erst, wenn eine neue Stufe erreicht ist. Ziel ist Grad 7, denn das bedeutet, dass ein Haus mit allen Akteuren im System kommunizieren kann. Diese Idee steht schließlich auch hinter der TI und elektronischen Gesundheitsakte. Es gibt zu viele Insellösungen, die alle gut sind, aber untereinander nicht vernetzt. Das gilt sogar für IT-Systeme innerhalb einzelner Häuser.
Wie viel Geld soll denn noch fließen?
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens wird in den kommenden Jahren eine finanzielle Herausforderung, ebenso wie die Demografie. Aber um das System zukunftsfähig zu gestalten, muss die Gesellschaft das stemmen und konsequent angehen.
Wäre es da nicht besser, gezielt die Kliniken auszuwählen, die für die Versorgung wirklich bedeutend sind, die jetzt in der Pandemie auch die größte Last schultern, und diese zu fördern und digital fit zu machen?
Das würde wahrscheinlich darauf hinauslaufen, dass vor allem große Krankenhäuser in Ballungsräumen aufgerüstet werden. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass die ländlichen Regionen vollends das Gefühl bekommen, dass die Entwicklung zu ihren Lasten geht. Besser ist es zu definieren, was Krankenhäuser leisten sollen, so wie es Nordrhein-Westfalen jetzt angeht. Die Landesregierung dort basiert ihre Planung nicht mehr auf Betten, sondern über Leistungen. Daraus leitet sich ab, welche Kompetenzen eine Klinik vorzuhalten hat. Diesen Weg sollten wir deutschlandweit einschlagen. Zugleich benötigen Krankenhäuser in der Fläche die Chance, sich weiterzuentwickeln. Ich sehe eine große Chance darin, die Sektorengrenzen aufzubrechen. Dann können je nach Region multifunktionale Gesundheitszentren entstehen, mit Angeboten von ambulanten über stationäre Leistungen bis zu Kurzzeit- und Langzeitpflege. Es gibt mittlerweile Investoren, die solche flexiblen Konzepte entwickeln, kleinere ländliche Krankenhäuser zu erhalten und weiterzuentwickeln.
Werden die Kommunen damit wichtiger, zulasten der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen)?
Die KVen leisten heute nicht das, was sie leisten müssten, um in Zukunft noch gebraucht zu werden. Wenn die Ärzte immer stärker im Angestelltenverhältnis arbeiten wollen, stellt sich die Frage, ob man die KVen noch braucht, zumal diese viel zu stark in alten Strukturen und zu wenig in der neuen Welt leben. Das ist alles viel zu träge, mit zu viel ständigem Hickhack, wer wie viel Geld bekommt. Die Kommunen sollten ihre Chancen nutzen können, um Versorgung mitzuorganisieren, ohne dass dies Zulassungsausschüsse der KVen konterkarieren könne.
Das heißt, die KV soll sich aus der Planung von Arztsitzen zurückziehen und dies der Kommunalpolitik überlassen?
Es muss zumindest eine engere Zusammenarbeit als bisher geben. Die Bürgermeister kennen die Gegebenheiten vor Ort besser und haben auch ein größeres Interesse daran, freie Arztsitze nachzubesetzen. Dementsprechend traue ich ihnen mehr Engagement und Kreativität zu, Ärzte in ländliche Regionen zu locken. Ich sehe die Kommunen dabei aber nicht in der Trägerschaft von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) oder anderen Einrichtungen, da gibt es viele andere Möglichkeiten. Die Kommunalpolitik hat vor allem eine anregende, koordinierende Aufgabe.
Corona sorgt für einen Wirtschaftseinbruch und reißt ein gewaltiges Loch in die öffentlichen Finanzen. Was der Bund noch verkraften kann, schaffen die Kommunen eher nicht. Was bedeutet der Finanzeinbruch für die kommunale Daseinsvorsorge, droht eine neue Welle an Krankenhaus-Privatisierungen?
Wer Träger eines Krankenhauses ist, ist für mich zweitrangig. Die Bundesebene setzt Standards, die Länder übernehmen die Krankenhausplanung. Ich fordere sie auf, dabei entweder ihren Pflichten auch bei der Investitionsförderung nachzukommen oder Kompetenzen abzugeben, zum Beispiel, indem die Kassen an der Finanzierung der Investitionen beteiligt werden und dafür auch Kompetenzen bei der Krankenhausplanung erhalten.
… und die Kommunen konzentrieren sich voll auf die Koordinierung des Leistungsspektrums?
Richtig. Sie müssen Träger für die ambulante, stationäre und pflegerische Versorgung finden. Wenn sie das alles selbst übernehmen wollen, sind sie zum einen finanziell überfordert, zum anderen fehlen oft schlicht Management-Kompetenzen. Warum soll, wer die Versorgung mit Wasser und Strom delegiert, die Kompetenz haben, ein Krankenhaus zu führen?
Bei Transformation Leader und ZENO diskutieren wir seit einiger Zeit die Möglichkeit eines kommunalen Krankenhauskonzerns. Die Idee: Die Kommunen bringen dort ihre Krankenhäuser ein, und erhalten im Gegenzug Anteile, analog zu Eon in der kommunalen Energieversorgung oder Agaplesion bei den evangelischen Krankenhäusern. Der Konzern würde nach betriebswirtschaftlichen Kriterien und medizinischem Bedarf geführt, mit weniger kommunalpolitischem Einfluss, müsste aber trotzdem nicht renditemaximierend arbeiten. Was halten Sie davon?
Auch so eine Konstruktion kann ich mir vorstellen. Der Verantwortungsdruck für die Kommunen würde sinken. Oftmals verhindern schließlich höchst emotionale Debatten vor Ort gute Entscheidungen.
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