Peter Salathe über die Chancen der Digitalisierung im Gesundheitswesen
Welche wichtigsten Vorteile sehen Sie dank innovativer Ansätze im Gesundheitsmarkt?
Die Digitalisierung und die aktive Nutzung von Daten und die Fähigkeit, die relevanten Daten zusammenzuführen und auswerten, bietet große Chancen. Die vielfältigen gesellschaftlichen Herausforderungen können durch Innovationen abgefedert werden: z. B. alternde Gesellschaft, Zivilisationskrankheiten, Stadt-/Land-Gefälle in der Versorgungslandschaft.
Aber Innovationen und die Weiterentwicklung und Personalisierung von Health-Services helfen auch dabei, den Kunden zu informieren, ihm die richtige und passgenaue Diagnose, Therapie und Medikation bereitzustellen. Wenn das noch mit den smarten, transparenten und verständlichen Servicefunktionen – frei von Medienbrüchen, analogen Transportwegen und Papier – verbunden wird, dann freut sich auch der Patient.
Welches Interesse hat Ihre Organisation an solchen Lösungen?
Wir wollen unseren Kunden Innovationen und smarte digitale Service für eine passgenaue Versorgung anbieten. Dabei ist der Kunde in seinem Familien- und Berufsfeld zunehmend flexibel und mobil. Die Services müssen sich anpassen. Und dem Patienten helfen, die richtigen Informationen zum richtigen Zeitpunkt zu erhalten. Der Kunde soll sich selbst ein Bild zu seiner persönlichen Gesundheits- bzw. Krankheitssituation machen. Und er soll seinem behandelnden Arzt die richtigen Fragen zur Behandlung, zu Optionen und eventuell Risiken stellen und sich dann für die Behandlung seiner Wahl entscheiden können.
Welche Vorgaben gelten bislang für den Einsatz von Innovationen in der Regelversorgung. Wie verlief der Prozess aus Ihrer Sicht?
Die üblichen Wege mit Evaluation und Nutzennachweis über den Gemeinsamer Bundesausschuss oder über den GKV-Spitzenverband in das Hilfsmittelverzeichnis waren und sind mit hohem Zeitaufwand und nicht unerheblichen Kosten verbunden – sie erfordern einen langen Atem. Diese Zeitschleife entspricht nicht mehr der disruptiven und agilen Vorgehensweise anderer Marktteilnehmer im Gesundheitsbereich – und auch nicht den Anforderungen der Kunden und Patienten.
Was ist/war daran unbefriedigend?
Zum einen: Unsere Welt ist schneller geworden. Wir bestellen etwas und erwarten, dass es am nächsten Tag geliefert wird. Wir haben Fragen und erwarten, dass sie sofort beantwortet werden. Wir wollen die neuesten technischen Produkte und diese kommen in immer schnellerer Abfolge auf den Markt. Als Konsumenten erwarten wir Schnelligkeit und als Unternehmen müssen wir uns diesen Erwartungen anpassen. Wir können uns nicht mehr erlauben Produkte, Services und Versorgungsangebote über Jahre zu entwickeln oder lange zu brauchen, bis wir auf Kundenwünsche und Kundennutzen reagieren können. Wenn wir zu langsam sind, dann ist der Mitbewerber schneller. Und der kommt möglicherweise nicht einmal als Krankenkasse in den Gesundheitsmarkt.
Zum anderen: Startups haben nicht die Ressourcen, um mehrere Jahre auf Erlöse aus dem Markt zu warten bzw. auf eine Entscheidung zu warten, ob Ihre Lösung für ein Marktsegment überhaupt zugelassen wird. Wenn es Alternativen, andere Märkte und Erlösmodelle gibt, entscheiden sich Anbieter und Startups eben für den kürzeren und einfacheren Weg. Die digital- und servicegetriebenen Innovation haben unser Umfeld und die Kundenerwartungen verändert. In kurzen Iterationen und Produktentwicklungszyklen werden Ideen entwickelt, verprobt, verworfen und im Markt angeboten. Der Kunde ist im Mittelpunkt und entscheidet letztlich was sinnvoll für ihn ist.
In diese Richtung der Serviceentwicklung entwickeln wir uns als Krankenkasse auch: möglichst frühzeitig vom Markt und Kunden Signale einsammeln, was in welcher Form gewünscht wird – und was nicht. Dann werden Ideen und Entwicklungen, die der Kunde nicht nachfragt und damit auch nicht benötigt, relativ früh eingestellt.
Wie wird diese Vorgehensweise neu aufgestellt?
Es erfordert eine agile, teamorientierte Arbeitsweise in denen unterschiedliche Fähigkeiten und Skills zusammenkommen. Neue Services im Rahmen der Versorgung können deshalb nicht nur von Medizinern oder Vertragsexperten gedacht werden. Das Team benötigt auch IT- und Service-Design-Kenntnisse. Und es hilft, wenn sich das Team auf das wichtige Thema fokussieren kann und in diesem Arbeitsprozess auch angeleitet und unterstützt wird.
Transparenz und Flexibilität werden erhöht, schneller zum Einsatz zum Einsatz kommende Systeme und Services minimieren die Risiken für große Fehlentwicklungen und langwierige Projekte. Kürzere Entwicklungszyklen, eine frühe und kontinuierliche Wertschöpfung mit einer lernenden Organisation führen zu wertvolleren Produkten und begeisterten Kunden und Mitarbeitern. Wichtig dabei: die permanente Rückkopplung mit dem Markt und den Kunden.
Wie bereiten Sie sich darauf vor?
Diese Vorgehensweise haben wir in den letzten Monaten getestet und bringen dies nun nach und nach in die Organisation… und lernen dabei… immer weiter…
Bitte nennen Sie Beispiele, wie durch den neuen Rahmen Patienten und Mitarbeiter im Gesundheitswesen nun rascher profitieren werden.
Der Entwurf für das Digitale Versorgung-Gesetz (DVG) geht in die richtige Richtung. Vieles wird von der praktischen Ausgestaltung und den noch zu definierenden Rahmenbedingungen über die Rechtsverordnung des BMG abhängen.
Aber: Startups und die etablierten Player im Gesundheitsmarkt haben für den skizzierten „Fast Track“ für Digitale Gesundheits-Anwendungen dann einen klaren Rahmen mit einem überschaubaren Zeitfenster und den Anforderungen Sachen Datenschutz, Datensicherheit, Medizinprodukt und Nutzennachweis/Evaluation. Damit kann man, glaube ich, als Startup gut umgehen, ein Produkt entwickeln, den Markteintritt und eine Skalierung planen.
Um bei hoher Geschwindigkeit die richtige Richtung einzuschlagen und Ergebnisse zu liefern, die auch auf dem Markt ankommen, braucht es Orientierung. Hier dient die strategische Ausrichtung unserer Kasse und die tatsächlichen Bedürfnisse unserer Kunden als Kompass. Entwicklungen finden im Dialog mit dem Kunden statt, um möglichst schnell zu liefern, was benötigt wird und um Fehlversuche zu minimieren.
Wo sehen Sie weiterhin Hürden? Wie lassen sich diese überwinden?
Die „letzte Meile“ für Digitale Gesundheits-Anwendungen wird – ähnlich im Telekommunikationsbereich – mit über den gesamten Service und die Nutzung entscheiden. Hier müssen alle Akteure mitziehen, die Zugang zum Kunden und Patienten haben bzw. den Zugang herstellen können. Das sind zum einen die Leistungserbringer, die zu digitalen Gesundheits-Anwendungen informieren, beraten und diese auch verordnen sollen. Notwendig ist zum anderen aber auch, dass die Anwendungen bei Patienten und die gewonnen Nutzungsdaten von den Leistungserbingern überprüft und die Patienten begleitet werden. Das wird nur funktionieren, wenn es auch hier smarte Workflows für die Leistungserbringer aus den ePA hin zu dem Praxisverwaltungssystemen gibt.
Ebenso in Sachen „letzte Meile“ wichtig: Die Distribution und die Bereitstellung von Digitalen Gesundheits-Anwendungen darf nicht an monopolartigen Strukturen von App-Stores ausgebremst werden.
Welche Rolle spielen elektronische Patientendaten in dieser Angebotslandschaft, welche Voraussetzungen sind hier ausschlaggebend?
Patientendaten spielen zukünftig eine entscheidende Rolle. Die wachsende Verfügbarkeit der Daten von Wearables, Insideables und E-Health-Apps führt zu einem „data lake“ bzw. zu einem exponentiell wachsenden „data river“. Dies ermöglicht nicht nur die Erstellung personalisierter Modelle für Patienten, die durch die übermittelten Gesundheits- und Lebensstilparameter kontinuierlich angepasst werden können. Big-Data-Analysen erlauben auch den Vergleich der individuellen Daten mit der gesamten Bevölkerung für eine schärfere statistische Definition des normalen oder gesunden Zustands, um maßgeschneiderte Aktionen für die Gesundheitsvorsorge zu entwickeln. In digitalen Zwillingen kann man somit individuell Krankheitszustände und -anfälligkeiten sowie Störfaktoren wie Alter, Lebensstil und genetischer Hintergrund abbilden.
Deshalb ist es neben grundlegenden Anforderungen zu Datensicherheit und Datenschutz wichtig,
- dass der Kunde immer die Hoheit hat, wem er welche Daten zur Verfügung stellt,
- die Datennutzung transparent ist,
- weltweit Standards für Datenhaltung und –austausch genutzt werden.
Für die Datennutzung und -Auswertung ist eine gesellschaftliche Diskussion und ein Konsens notwendig, der auch insbesondere auch ethische Aspekte einschließt.