Seuchen sorgten in der Menschheitsgeschichte immer wieder für Innovationen. In der aktuellen Corona-Krise kann Online und Distance Learning der Durchbruch gelingen. Das birgt Chancen, stellt die Gesellschaft aber auch vor Herausforderungen.
Von Dr. Andreas Braun und Dr. Gergana Vladova
Ende März veröffentlichte das US-amerikanische Wirtschaftsmagazin Forbes einen Artikel, der sich wie ein Silberstreif am Horizont las. Pandemien, so die These, seien ein Katalysator für Innovation und beschleunigten den Wandel, indem sie ein Umfeld für die Einführung und Erprobung neuer Ideen böten. Als Belege führte der Artikel die Pest an, die die Entstehung der modernen Gesellschaft einleitete, die Bostoner Pocken-Epidemie, die als „Nebenprodukt“ die Pressefreiheit hervorbrachte, und SARS, das den E-Commerce befeuerte.
Welche langfristigen Folgen Covid-19 haben wird, lässt sich im Augenblick noch nicht vorhersagen. Einzig sicher ist, dass die Quarantäne – ob freiwillig oder verordnet – eines nicht unerheblichen Teils der Weltbevölkerung Folgen haben wird. Aus einer globalisierten ist in wenigen Wochen eine zunehmend isolierte, fragmentierte Gesellschaft geworden. Die Menschen gehen auf Abstand, wahren die Distanz. Epidemiologen sprechen von „Social Distancing“. Gemeint ist damit das bewusste Bemühen, den engen Kontakt zwischen Menschen zu verringern, um die Übertragung eines Virus zu verhindern oder zumindest deutlich zu verlangsamen.
Wie abrupt und disruptiv die Einschnitte sind, lässt sich im Augenblick besonders gut an Millionen Schülern und Lehrern, Studenten und Professoren beobachten. Bildungseinrichtungen sind im Shutdown! Schulen und Hochschulen haben ihren Offline-Dienst und somit ihre Präsenz in der realen Welt – zumindest teilweise und vorübergehend – eingestellt und sind online gegangen. Diese schnelle Migration war möglich, weil in Hochschulen seit fast zwei Jahrzehnten die technischen Lösungen vorhanden sind, die Versuche jedoch, neue Technologien zu integrieren oder neue Formate wie Online-Learning einzuführen, aus unterschiedlichen
Gründen mehr oder weniger zaghaft waren. Neben der häufig fehlenden zentralen Strategie zur Umsetzung spielen auch die fehlende Akzeptanz der verantwortlichen Lehrer und Dozenten oder ihre mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, didaktische und technische Kompetenzen entsprechend aufzubauen, eine nicht unwesentliche Rolle. Die Krise machte ein spontanes Umsteuern erforderlich. Doch auf eine solch schnelle Massenmigration war niemand vorbereitet.
Diese Situation kann treffend mit dem Begriff der Disruption verdeutlicht werden. Disruption wird in den Wirtschaftswissenschaften vor allem in Zusammenhang mit Innovationen verwendet („disruptive innovation“). Gemeint sind damit Neuerungen, die ein neues Markt- und Wertschöpfungsnetzwerk schaffen, mittelfristig ein bestehendes Markt- und Wertschöpfungsnetzwerk (zer-)stören und etablierte marktführende Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen verdrängen. Auch wenn nach der reinen Lehre ein Virus nicht als Auslöser für disruptive Innovationen herhalten kann, so wirkt die durch die Krankheit und vor allem durch die Angst davor verursachte gesellschaftliche Situation doch als Brandbeschleuniger für einen sich langsam verstetigenden Trend der Technologisierung der Lehre. Ermöglicht hat diese Entwicklung die Revolution in der Informationstechnologie, gerade in den USA sorgen aber auch die seit Jahren explodierenden Kosten für die klassischen Präsenz-Hochschulen der Offline-Welt dafür, dass neue Formen der Bildung an Attraktivität gewinnen und zunehmend zur Alternative werden.
Das wirft die Frage auf, wie nachhaltig und disruptiv die aufgetretenen Veränderungen des Bildungssystems sein werden. Zum einen ist die Ausgangssituation bei Weitem nicht optimal. Ein erfolgreicher Einsatz digitaler Medien in der Lehre verlangt passende didaktische Konzepte, gut vorbereitete Lehrkräfte, klare Richtlinien und strategische Vorgehensweisen. Diese werden gerade zum großen Teil direkt im Laufe des Veränderungsprozesses erschaffen und ohne Erprobung direkt angewendet. Es ist eine Situation des Learning by Doing, der stetigen Anpassungsnotwendigkeit, und somit auch eine Situation, in der Fehler gemacht oder Grenzen erkannt werden können. Hochschulen und Bildungseinrichtungen haben also noch einen Weg zu gehen. Aktuelle Erfahrungen aus China zeigen aber, dass der Lernprozess bei Bedarf schnell ins Digitale umorganisiert werden kann. Wenn dem ersten Schock mit Struktur, Kompetenzaufbau und vor allem dem Sammeln von Erfahrungen begegnet wird, kann eine positive Lernsituation erschaffen werden, die von Lehrenden und Lernenden als solche wahrgenommen wird.
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Bedeutet das, die durch Covid-19 ausgelöste Disruption in Richtung digitalen Lernens führt zu einem Ende der klassischen Universitäten und Hochschulen mit Präsenzlehre, analogem und Offline-Lernen? Das ist eher unwahrscheinlich, vielmehr dürfte es künftig eine Vielfalt von Lehr- und Lernformen geben. Das gilt nicht nur für die akademische Lehre, sondern auch die unternehmensnahe Fort- und Weiterbildung. Dozenten und Studenten, Schüler und Lehrer spüren den Kontrast zwischen der gewohnten klassischen Lernumgebung und der neu erschaffenen. Mancher wird nach einer ersten Euphorie die soziale Umgebung des Lernens über Präsenzveranstaltungen vermissen. Das digital organisierte Lernen dient in Zeiten einer Krise als Ersatz für eine kulturell etablierte soziale Institution, die nicht nur Wissen, sondern auch Werte vermittelt und zu diesem Zweck auf eine lange Geschichte zurückgreifen kann.
Bei allen positiven Effekten, die mit der Digitalisierung der Lehre verbunden sind (Berücksichtigung individueller Bedürfnisse, zeitliche und räumliche Unabhängigkeit usw.), wird klar, dass die reine Übertragung der Institution der Wissensvermittlung durch Lehre von der realen in die digitale Welt nicht möglich ist, ohne die konkreten Gegebenheiten dieser anderen Welt zu berücksichtigen – wie die ganz unterschiedlichen Herausforderungen der Sinneswahrnehmung, der fehlende, unvermittelte soziale Kontakt, der notwendige „Tapetenwechsel” zwischendurch im Prozess des Lernens, die Rolle der Lehrenden, die nicht damit abgedeckt wird, dass bestimmte Informationen weitergegeben werden und der Lernprozess beobachtet und gesteuert wird (eine Aufgabe, die in Zeiten von Corona viele Eltern übernehmen müssen). Vielmehr werden Lehrende von ihren Schülern als eine Instanz verstanden, die nicht nur für einen selbst, sondern für seine ganze soziale Umgebung in der Schulklasse eine Gültigkeit besitzt. Solche psychologischen und sozialen Gegebenheiten spielen eine große Rolle und sind im kollektiven Gedächtnis etabliert. Sie sind Teil einer sozial konstruierten Realität, für die in der virtuellen Welt noch kein vergleichbares Konstrukt existiert.
Covid-19 ist ein disruptiver Faktor. Da Vergleichswerte für eine solche Katastrophe mit globalem Maßstab fehlen, ist niemand in der Lage vorherzusagen, wie andauernd und wie tief greifend die Konsequenzen sein werden. Die jetzt gesammelten Erfahrungen in diesem Live-Experiment werden darüber entscheiden, wie die Wissensvermittlung der Zukunft sein wird.
Dr. Andreas Braun ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der BSP Business School Berlin und Geschäftsführer des Innovation Hub Institute Berlin – New York. Seine Forschungsschwerpunkte sind (Open) Innovationsmanagement, Geschäftsmodellinnovationen und digitale Transformation. Er lebt und forscht derzeit in New York.
Dr. Gergana Vladova ist Leiterin der Forschungsgruppe Bildung und Weiterbildung in der digitalen Gesellschaft am Weizenbaum Institut für die vernetzte Gesellschaft in Berlin und forscht als Postdoktorandin am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insb. Prozesse und Systeme an der Universität Potsdam. Ihre Schwerpunkte sind Wissensmanagement, Lernen und Lernprozesse, digitale Transformation und Innovationsmanagement.