Forschung mit Hightech, aber Bildungsarbeit ohne Technik – das trifft Prof. Dr. Michael Kerres in Unternehmen immer wieder an. Für ihn ist klar: Das passt nicht zusammen.
„Die vergangenen zwölf Monate haben gezeigt: Digitales Lernen war in Schulen, Hochschulen und auch Unternehmen bisher in der Regel nicht strategisch verankert. Kurzfristig waren lediglich Notfallreaktionen zu sehen. Und was sich mittel- und langfristig in der Bildungsarbeit verändern wird, ist noch völlig unklar. Aus meiner Sicht ist es jedenfalls keineswegs sicher, dass durch die Pandemie tatsächlich ein Digitalisierungsschub in der Bildungsarbeit ausgelöst worden ist. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass nicht auch nach der Pandemie Lehrpersonen wieder auf ihre früheren Strategien zurückgreifen. Denn viele erleben das digitale Lernen nur als aufgezwungen.
Unternehmen müssen sich jedoch klarmachen, dass sie so nicht für die Zukunft gerüstet sind – wenn sie glauben, dass die Zukunft eine digitale sein wird. Vor Beginn der Coronapandemie habe ich in Unternehmen immer wieder erlebt, wie etwa der Personalrat oder Datenschutz-Verantwortliche dafür gesorgt haben, dass Bildungsarbeit nicht im digitalen Zeitalter angekommen ist. Ich kenne Unternehmen, die auf der Etage mit der Forschungsabteilung die teuersten Computer der Welt nutzen, um neue Produkte zu entwickeln. In der Etage darunter dürfen die Mitarbeiter aber aus Sicherheitsgründen keine Webcams oder USB-Sticks verwenden, Videokonferenzen sind tabu. Im selben Gebäude kommt also einerseits Hightech zum Einsatz, während andererseits Bildungsarbeit ohne Technik abläuft. Das passt nicht zusammen.
In all dem zeigt sich die fundamentale Skepsis gerade in Deutschland gegenüber dem Einsatz von Technik in der Bildung – anders als zum Beispiel beim Smartphone-Konsum, im Maschinenbau oder der Medizintechnik. Wenn Bildung und Technik aber nicht zusammenkommen, müssen wir uns fragen: Was bedeutet das am Ende des Tages? Ich bin mir sicher: Wenn wir bei der Bildung so zurückhaltend sind mit Technik, hat das Konsequenzen für die Digitalisierung der Gesellschaft. Es wird sich auf die Möglichkeit auswirken, innovative digitale Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln.
Wer nun, sobald die Pandemie vorüber ist, Bildungsangebote wieder so umzusetzen will wie früher, muss sich fragen: Was sagt das über für meine Vorstellung der Zukunft aus? Wenn wir glauben, dass die Zukunft durch digitale Technik geprägt sein wird, dann müssen wir uns auch in der Bildungsarbeit mit dem Thema auseinandersetzen! Es erscheint zielführend, wenn Unternehmen und Bildungseinrichtungen digitales Lernen strategischer angehen – und einen entsprechenden organisatorischen Entwicklungsprozess anstoßen.“
Michael Kerres ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Inhaber des Lehrstuhls für Me-diendidaktik und Wissensmanagement an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Zudem leitet er das Learning Lab der Universität, eine Einheit mit 40 Mitarbeitern, die zum digitalen Wandel in der Bildung forscht.
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