Als wären Ärzte und Pfleger nicht schon ausgelastet genug, sollen sie jetzt auch noch auf Social Media aktiv werden. Nach Facebook, Instagram, Youtube und Twitter ziehen inzwischen TikTok und die neue Audio-App Clubhouse vermehrt User an. Das Dortmunder Klinikum zeigt, welcher Kanal sich lohnt.
von Jennifer Garic
Dramatische Musik: Ein Arzt rennt durch das Klinikum Dortmund, kniet nieder, atmet einmal tief durch – und reanimiert ein Gummihuhn. Willkommen auf TikTok. Wer das Video des Klinikums Dortmund irritierend findet, hat die App wohl noch nicht auf seinem Smartphone installiert. Bei TikTok ist Platz für schauspielerisches Talent, Comedy, Musik, Aufreger und Lernvideos. Und die App wächst rasant: Im Januar 2018 waren gerade mal 50 Millionen Menschen pro Monat bei dem Kurzvideodienst aktiv, im Juli 2020 schon 700 Millionen. Auch in Europa gehört TikTok längst zum Mainstream der Social-Media-Plattformen: Rund 100 Millionen Menschen verteilen Herzen, kommentieren und laden Videos hoch. Marc Raschke ist einer von ihnen. Er ist als Leiter der Unternehmenskommunikation des Klinikums Dortmund verantwortlich für die zahlreichen Social-Media-Auftritte. Und er hat die App früh für sich entdeckt: „Als ich TikTok 2019 auf einer Reise in New York kennengelernt habe, hat mich das nicht mehr losgelassen“, sagt er.
In den USA haben Unternehmen schon damals mit und auf TikTok geworben. „Das wollte ich auch testen.“ Zurück im Klinikum musste er kaum Überzeugungsarbeit leisten. „Wir haben schon viel auf Social Media ausprobiert, da habe ich mir einen Vertrauensvorschuss beim Chef erarbeitet“, sagt Raschke. Es gibt kaum eine Plattform, auf der die Dortmunder nicht vertreten sind: Facebook, Instagram, Youtube – mehrere Tausend Menschen folgen dem Klinikpersonal auf allen Plattformen und schauen bei Erklärvideos zu, lesen emotionale Posts und bekommen einen oft humorvollen und emotionalen Einblick in die Arbeit der Pfleger und Ärzte.
Damit zählen die Dortmunder zu den Pionieren in der Gesundheitsbranche – nicht viele Kliniken trauen sich an den locker-leichten Ton in den sozialen Netzwerken heran. Noch größer sind die Vorbehalte, wenn ganz neue Plattformen wie TikTok oder Clubhouse plötzlich zum Trend werden. Lohnt es sich, dort schnell aufzuspringen? Oder sollte man besser erst mal abwarten, wie sich andere Unternehmen auf diesen Plattformen verhalten? Raschke ist einer derjenigen, die sich gerne gleich als „Early Adopter“ auf neue Plattformen wagen. Tatsächlich war der Start bei TikTok aber kein Selbstläufer. Denn die App funktioniert ganz anders als bisherige Social-Media-Apps. Selbst Jan König, digitalaffiner Mitgründer der Marketing-Agentur Odaline, hatte da seine Probleme: „Ich habe mir TikTok von einem 17-Jährigen erklären lassen“, gibt König zu. Denn die Plattform richtet sich vor allem an junge Menschen. Die Nutzer selbst sind aber inzwischen gar nicht mehr so jung, das zeigen Zahlen von TikTok: 31 Prozent der Nutzer sind zwischen 25 und 34 Jahre alt, 35 Prozent sind sogar älter als 35 Jahre. Wer diese Zielgruppen für sich gewinnen will, muss lernen, nach den TikTok-Regeln zu spielen. Und das stellt so manche Marketing-Abteilung vor große Herausforderungen, weiß König aus seinem Alltag als Marketing-Berater zu berichten: „Im Gegensatz zu jeder anderen Plattform ist bei TikTok nicht entscheidend, wie viele Follower man hat. Man muss es auf die For-you-Page schaffen.“
Diese „Für-Dich-Seite“ ist die Startseite bei TikTok. Öffnet ein Nutzer die App, wird hier direkt eine Anzeige oder ein beliebiges Video von einem vom TikTok-Algorithmus ausgewählten Nutzer abgespielt, inklusive Ton. Mit einem Wisch nach oben gelangt der Nutzer direkt zum nächsten Video – und so kann man sich stundenlang durch Kurzvideos scrollen, Herzen verteilen und kommentieren. Bei jedem angeschauten Video lernt der Algorithmus die Interessen des Nutzers besser kennen und spielt so immer passendere Videos aus. Kurz und knapp: „Bei TikTok ist nicht wichtig, wem du folgst, sondern welche Themen dich interessieren.“ Das macht es Unternehmen wie dem Dortmunder Klinikum schwer, sich auf TikTok Zuschauer zu erkämpfen. „Wir sind bei TikTok nach dem Trial-and-Error-Prinzip vorgegangen, mussten erstmal herausfinden, was die DNA eines guten TikToks ist“, sagt Kommunikationschef Raschke. Einige der ersten Videos fielen in die Kategorie „Error“ – sie sind heute nicht mehr online. Der Durchbruch gelang den Dortmundern dann mit einem besonders kuriosen Video. Darin schiebt ein Pfleger zwei junge Angestellte der Klinik auf einem Krankenbett durch die Parkplatzschranke. „Das klingt jetzt erst mal nicht nach einem inhaltlich besonders wertvollen Video, aber auch so ein kurzer Clip kann unsere Werte vermitteln.“ Welche genau das sind, hat das Klinikum Dortmund vor drei Jahren in einem Mitarbeiterkodex festgehalten. Und darin steht auch, dass Humor einen festen Platz im Klinikum hat. „Wir nehmen uns selbst nicht zu ernst und sind für gute Späße zu haben.“ Auch zwei Chefärzte sind sich nicht zu schade und tanzen in einem Tik-Tok-Video mit. Zwei Millionen Menschen haben das Video gesehen, fast 200.000 haben ein Herz dagelassen.
Der Erfolg des Videos ist dabei nur zum Teil den Darstellern zu verdanken. Denn bei TikTok geht es vor allem um Trends und Challenges. Einer tanzt vor, Millionen Nutzer machen es nach – auch die Pfleger und Ärzte in Dortmund. Lieder verbreiten sich so wie ein Lauffeuer. Wer ein Video mit einer Tonspur sieht, die ihm gefällt, muss nur unten auf den angezeigten Sound klicken und kann direkt selbst ein Video dazu aufnehmen. Genauso funktioniert das auch bei Dialogen. Nimmt ein Nutzer ein Video auf, können sich andere die Tonspur per Klick aneignen und lippensynchron ihr eigenes Video dazu drehen. Unternehmen, die auf einen solchen Trend aufspringen, haben größere Chancen auf der beliebten For-you-Page zu landen.
Diese Chance ist aber mit Vorsicht zu genießen: „Häufig sind die Urheber beliebter Tonspuren private Nutzer oder die Künstler selbst“, erklärt Marketing-Experte König. „Da Unternehmen ein kommerzielles Interesse haben, dürfen sie also nicht einfach die Tonspuren nehmen und damit ‚werben‘.“ Aus Spaß kann schnell Ernst werden, wenn der Urheber Anzeige erstattet oder ein Honorar für die Nutzung seiner Inhalte fordert. So ein Fall ist erstmals Mitte Februar bekannt geworden. Das globale Label Warner Music hat begonnen, TikTok-User abzumahnen, die ein Video zur sogenannten Jerusalema-Challenge gemacht haben. Hierzulande veröffentlichten unter anderem etliche Krankenhausbelegschaften Videos zu dem viralen Hit der südafrikanischen Master KG, um inmitten des Krisenmodus auch fröhliche Botschaften in den sozialmedialen Orbit zu senden. Inzwischen wurde selbst die Polizei NRW von Warner Music zur Kasse gebeten. Die Uniklinik Düsseldorf wurde verschont, obwohl sie zwar einen Tag nach Veröffentlichung eine Abmahnung erhielt, das Video aber direkt wieder offline genommen hatte. Darum ist besonders wichtig, dass Unternehmen den richtigen Account wählen: „Anfangs gab es bei TikTok nur private Accounts, weswegen womöglich auch viele früh registrierte Unternehmen noch unbewusst als Privatnutzer angemeldet sind“, sagt König. Mittlerweile können Unternehmen nach der Registrierung über die Einstellungen zu einem sogenannten Brand-Konto wechseln – und das sollten sie dringend tun: „Unternehmen haben dann nämlich automatisch nur eine eingeschränkte Auswahl an Tonspuren, sind damit auf der sicheren Seite“, sagt der Odaline-Mitgründer.
Diese Einschränkung macht die Nutzung von TikTok für Unternehmen aufwendiger als für Privatnutzer. Sie können nicht einfach Trends mitmachen und damit ihre Bekanntheit steigern, sie müssen eigene Tonspuren entwickeln oder einkaufen. In der Regel können sie auch keine bereits für andere Plattformen produzierten Videos zweitverwerten. Denn TikTok-Videos funktionieren nur im Hochkant-Format und folgen eigenen Regeln. „Videos brauchen zum Beispiel keinen langen Spannungsbogen, am besten kommt der Knall direkt am Anfang“, sagt König. All das haben die Dortmunder inzwischen verstanden und die Experimente der Anfangszeit zahlen sich aus: „Wir haben durch unsere Social-Media-Auftritte viel mehr Bewerbungen, weil wir als junger, innovativer Arbeitnehmer wahrgenommen werden, bei dem man auch mal lachen kann“, sagt Raschke. Seit Dezember 2020 ist es auf dem TikTok-Kanal der Dortmunder aber sehr ruhig geworden. Es gibt keine neuen Videos: „In der aktuellen Corona-Lage arbeiten wir alle am Limit“, sagt der Leiter der Unternehmenskommunikation des Dortmunder Klinikums. „Da ist es aus unserer Sicht nicht das richtige Signal, sich jetzt mit witzigen Videos zu beschäftigen.“
Stattdessen entdecken die Dortmunder gerade eine neue App für sich: Clubhouse. Die Audio-Livestreaming-App ist erst seit wenigen Wochen in Deutschland und ausschließlich für Apple-Nutzer verfügbar, aber trotzdem das Social-Media-Thema Nummer eins. Hier geht es nicht um bunte Bilder und kreative Videos – hier zählt ausschließlich die Tonspur. In digitalen Gesprächsrunden treffen sich Unternehmer, Manager, Politiker und Promis, die breite Masse klinkt sich als Zuhörer ein und kann sich auch zu Wort melden. Der Veranstalter eines Clubhouse-Livestreams bestimmt, wer sprechen darf, alle anderen können im Live-Chat Kommen-tare abgeben und Fragen stellen. Die Plattform eignet sich damit auch für ernstere Themen. Die Dortmunder Klinik hat das neue Format zum Beispiel genutzt, um eine Corona-Fragestunde anzubieten. Rund 300 Menschen haben sich eingewählt und die Ärzte mit Fragen gelöchert. „Für einen ersten Aufschlag war das gar nicht schlecht. Mal schauen, wo Clubhouse noch hinführt“, sagt Raschke.
Marketing-Experte König sieht großes Potenzial für die Gesundheitsbranche auf Clubhouse: „Aktuell gibt es besonders viele Streams zum Thema mentale Gesundheit“, sagt er, schließt aber nicht aus, dass auch weitere Gesundheitsthemen gut ankommen. Denn wer Clubhouse herunterlädt und sich registriert, muss seine Interessen angeben. Hier haben TikTok und Clubhouse eine Gemeinsamkeit: In beiden Apps stehen Themen und Interessen im Vordergrund, weniger die Accounts einzelner Personen. Gibt ein Nutzer als gewünschten Themenschwerpunkt etwa „Gesundheit“ an, können Streams von Kliniken und anderen Organisationen aus der Gesundheitsbranche automatisch in der Empfehlungsliste auftauchen. Mit einem Tipp können Interessierte dann einschalten und der Live-Sendung zuhören. „Dieses einfache Prinzip trifft gerade genau den Nerv der Zeit“, sagt König. Den Raketenstart hat Clubhouse sicher auch der aktuellen Pandemielage zu verdanken. Viele Menschen vermissen den persönlichen Austausch zu ihren Fachthemen. Und wer im Homeoffice ist, kann auch um 15 Uhr mal kurz in einen Livestream reinhören. Ob Clubhouse deshalb nur ein kurzer Trend ist, der nach der Pandemie vergeht, oder sich als wichtiger Kommunikationskanal für Unternehmen im Gesundheitswesen etabliert, bleibt noch abzuwarten.
ANGESTELLTE ALS MIKROINFLUENCER
Viele Pfleger und Ärzte sind bereits auf TikTok und begeistern Tausende Nutzer mit Comedy und Infovideos. Unternehmen können diesen Erfolg für sich nutzen und gemeinsam mit den Angestellten Konzepte und Videos erarbeiten. So werden Angestellte zu Microinfluencern für das eigene Unternehmen und zahlen mit ihren Aktivitäten auf die Markenbekanntheit ein. Weiterer Vorteil: Private Nutzer dürfen jede Tonspur verwenden und können so alle Trends stellvertretend für das Unternehmen mitmachen. Diese Ärzte und Pfleger machen vor, wie es geht:
@metinlevindogru, 106,8k Follower, 3.1 Mio. Likes
Der Pfleger zeigt in seinen Videos den ganz normalen Wahnsinn in Kliniken und nimmt sich und seine Kollegen dabei nicht zu ernst. In einigen Videos geht er aber auch ganz ernst auf Probleme der Branche ein.
@5_sprechwunsch, 322,5k Follower, 12,5 Mio. Likes
Der Kölner Rettungssanitäter informiert seine Follower über medizinische Begriffe, erklärt was in Notsituationen los ist und zeigt in Sketchen, welche absurden Situationen er im Rettungsdienst mit Patienten und Kliniken erlebt.
@kids.doc.vitor, 131k Follower, 1.3 Mio. Likes
Warum Badeenten schlecht sind und was ein nächtlicher Juckreiz bei Kindern bedeuten kann, erklärt der Kinderarzt in kurzen, informativen Videos auf TikTok. Gleichzeitig räumt er kompetent mit Ammenmärchen rund um die Kindergesundheit auf.
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