Transformation heißt gemeinsame Vision

In Amerikas Gesundheitssystem spielen Pflegefachpersonen eine wesentlich wichtigere Rolle als in Deutschland. Sie verordnen beispielsweise Medikamente, eine Pflegewissenschaftlerin führt sogar eine medizinische Fachgesellschaft. Die Pflegedirektorin der Cleveland Clinic sagt, Change beginne mit Kulturfragen – und mit Akademisierung.

Interview mit Dr. Kelly Hancock Chief Nursing Officer

Inwieweit können Pflegefachpersonen im Klinikalltag eigenverantwortlich und selbstständig entscheiden?

Ein Advanced Practicioner Nurse, der eine Zulassung mit Provider-Status hat, kann diagnostizieren und behandeln, immer in Absprache mit einem Arzt, aber eigenständig. Registered Nurses mit einem vierjährigen Bachelorstudium, die am Bett arbeiten, können nicht eigenständig diagnostizieren oder die Medikation verändern, die Ärzte oder Advanced Practitioner Nurses verschrieben haben. Jedoch können sie eigenständig andere Interventionen veranlassen, etwa im Bereich der Wundversorgung. Eine Pflegefachperson kann selbstständig entscheiden, dass ein Patient an einen Herzmonitor angeschlossen werden muss. Anschließend ruft sie dann den Arzt. Außerdem ermuntern wir unsere Kollegen in der Pflege, sich zu Wort zu melden und ihre Meinung zu sagen.

Inwiefern?

Wir haben eine Kultur der hohen Zuverlässigkeit (high reliable) entwickelt, denn wir wollen die höchste Qualität bieten. Wenn eine Pflegefachperson findet, dass etwas an einer ärztlichen Verordnung nicht richtig ist, dann darf sie sagen: Stopp, etwas ist nicht richtig! Das ist unsere Kultur hier. Wir erwarten, dass jeder deutlich seine Meinung sagt. Was dabei hilft: eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserung. Das ist kein ganz neuer Ansatz, andere Industrien arbeiten damit schon länger.

Wie konkret erreichen Sie das?

Unter anderem führen wir jährlich eine Befragung unter unseren Mitarbeitern durch. Eine Frage lautet dabei: Fühlen Sie sich ermutigt, Ihre Meinung zu sagen? Ein großer Anteil antwortet: Ja. Ich denke, damit schaffen wir einen Sinn für Ownership unter all unseren Mitarbeitern. Das wird das Unterscheidungsmerkmal sein, um die Zukunft des Gesundheitswesens zu gestalten: Organisationen, die sich wirklich auf alle ihre Mitarbeiter verlassen können. Krankenhäuser müssen auf die Kraft aus der Pflege bauen. Der Titel Ihres Magazins lautet „Transformation Leader“. Darum geht es doch: Eine gemeinsame Vision zu kreieren, zu der jeder sich bekennen kann.

Cleveland Clinic Chemotherapie Zimmer

Wie steht es um die Hierarchie, die ja in Krankenhäusern traditionell verankert ist?

An der Cleveland Clinic gibt es eine wirklich kollegiale Zusammenarbeit aller Berufsgruppen, wenig Hierarchiedenken. Ärzte und Pflegekräfte betrachten sich als Team zur Versorgung der Patienten. Das bezieht auch andere Berufsgruppen mit ein: Apotheker oder Physiotherapeuten etwa, je nachdem, was Patienten benötigen. Wir überlegen, welchen Skill-Mix wir benötigen, um sicherzustellen, dass wir unsere Patienten bestmöglich behandeln. Insbesondere im ambulanten Bereich führen oftmals Pflegefachpersonen Teams gemeinsam mit Ärzten.

Wie sieht das konkret aus?

Die Koordination von Gesundheitsleistungen wird dabei immer wichtiger. Ein Patient, der mehrere Krankheiten hat und multimorbid ist, etwa ein Diabetiker oder Herzpatient, sollte sorgsam beobachtet werden. Das kann über elektronische Patientenakten geschehen: Die Pflegefachperson prüft, ob ein Patient seine planmäßigen Untersuchungen vornehmen lässt, ob die Medikation stimmt, ob die Hausbesuche wie geplant erfolgen, das alles zeigt die Dokumentation. Wir sammeln darüber hinaus Erfahrungen mit verschiedenen technischen Möglichkeiten, damit Patienten nicht zu uns in die Ambulanz kommen müssen. Krebspatienten zum Beispiel haben eine persönliche Bezugsperson in der Pflege, die sie während ihrer gesamten Krankheit begleitet, die sie nach Chemotherapien anruft oder per Telemedizin fragt, wie es ihnen geht. Das führt zu besseren klinischen Ergebnissen für unsere Patienten. In Befragungen kam immer wieder heraus: Patienten erwarten von uns, dass wir sie gut behandeln, dass wir freundlich sind, aber auch einen verlässlichen Kommunikationsplan.

Nahezu überall auf der Welt suchen Krankenhäuser Pflegekräfte …

… ja, Pflegefachpersonen sind ein knappes Gut!

Macht die Akademisierung es einfacher, pflegerischen Nachwuchs zu gewinnen, weil es neue Karriereoptionen gibt, oder schwieriger, weil die Ansprüche an den Nachwuchs wachsen?

Hier in Ohio gibt es eine Knappheit an Studienplätzen und Lehrkräften. Wir arbeiten daran, dass unsere Mitarbeiter neben ihrer Tätigkeit hier am Krankenhaus an den Fakultäten für Pflegewissenschaft als Lehrkräfte wirken können. Außerdem sprechen wir Highschool-Schüler an, ob ein Beruf im Gesundheitswesen, in der Pflege, für sie interessant ist. Falls ja, bieten wir an, zum Beispiel Studiengebühren zu subventionieren.

Seit 25 Jahren arbeitet Dr. Kelly Hancock in der Pflege an der Cleveland Clinic. Als Executive Chief Nursing Officer arbeitet sie heute in der höchsten Führungsebene der gemeinnützigen Krankenhausgruppe mit. Sie begann ihre Karriere als zertifizierte Pflegehelferin (Certified Nursing Assistant, CNA). Ihren Bachelor in Pflegewissenschaft erhielt sie 1993 von der Ursuline College Breen School of Nursing, dort qualifizierte sie sich 2007 auch zum Master of Science in Nursing (MSN). 2015 wurde sie am Chamberlain College of Nursing zum Doctor of Nursing Practice (DNP) promoviert. Seit 2011 ist sie Chief Nursing Officer des Cleveland Main Campus und verantwortet die Pflege an den zehn Standorten der Cleveland Clinic im nördlichen Ohio sowie in Florida. Dr. Hancock hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Auszeichnungen erhalten und arbeitet in einer Reihe von Fachgesellschaften mit.


„NURSES FOR CAPTAIN“

„Ärzte wissen nicht besonders gut, wie man sich um Patienten kümmert. Es sind Teams und Teams von Teams, die Patienten gut versorgen … Hier in Ohio dürfen Nurse Practitioner Rezepte für Medikamente ausstellen. Es ist riskanter und es kommt zu mehr Fehlern, wenn Ärzte Medikamente verschreiben! … Und ich sage Ihren Ärzten in Deutschland auch: Wer sich nicht für virtuelle Sprechstunden und Telemedizin öffnet, wird seine Daseinsberechtigung verlieren.“ Dr. James Young

Hier geht es zum ganzen Interview mit Dr. James Young, Chief Academic Officer der Cleveland Clinic