Interview mit Prof. Dr. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen.
Corona und die Transformation Ihrer Organisation – Hand aufs Herz: Haben wir vor einem Jahr mit unserem Fokus auf Mindset und Innovationsmanagement eventuell den falschen Schwerpunkt gesetzt, oder wie erleben Sie als Führungspersönlichkeit den (digitalen) Umbruch auch im Lichte der Pandemie?
Nein, den Fokus auf das Thema Digitalisierung zu setzen hat aus meiner Sicht vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie sogar noch mehr an Bedeutung und Sinnhaftigkeit gewonnen. Denn die Pandemie hat wie unter einem Brennglas deutlich gemacht, dass wir in Deutschland auch im internationalen Vergleich einen großen Nachholbedarf haben. Die fehlende Vernetzung und die damit einhergehende lückenhafte Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren im Gesundheitssystem ist dabei nur eines von vielen Defiziten. Auch der Personalmangel im Gesundheitswesen wurde durch Corona in seiner ganzen Tragweite offensichtlich. Die Digitalisierung ist auch hier ein wesentlicher Lösungsansatz, davon bin ich überzeugt. An der Universitätsmedizin Essen arbeiten wir intensiv daran, dass insbesondere die Pflege durch die Einführung der elektronischen Patientenakte von patientenfernen Tätigkeiten entlastet wird und sich langsam wieder Slots für mehr Zeit am Patienten auftun – um nur ein Beispiel zu nennen. Dreh- und Angelpunkt für die Zukunft ist der bundesweite Aufbau einer digitalbasierten Gesundheitsplattform, um eine zeitgemäße Kommunikation sowie einen schnellen und fehlerfreien Datenaustausch sicherzustellen. Das hat auch die Politik erkannt und stellt im Rahmen des Krankenauszukunftsgesetzes insgesamt drei Milliarden Euro für Digitalisierungsprojekte zur Verfügung. Hinzu kommt eine Finanzierung durch die Länder.
Agilität, Innovationsfähigkeit, Leadership, Patient Journey: Wie haben Digitalisierung und Pandemie Ihre Organisation in den vergangenen zwölf Monaten ganz konkret verändert?
Selbstverständlich hat Corona das Tagesgeschäft über weite Teile dominiert, gleichzeitig durfte und darf die Regelversorgung beispielsweise von schwer erkrankten Krebs- und Herzpatienten nicht vernachlässigt werden. Das haben wir aus dem ersten Lockdown im Frühjahr gelernt. So herausfordernd wie aktuell war die Situation bislang noch nicht, wir behandeln derzeit anhaltend über 100 Patienten und damit bereits im November rund doppelt so viele wie während der Hochphase der ersten Welle im April. Der vergleichsweise hohe Digitalisierungsgrad der Universitätsmedizin Essen hat sich auch in der Krise als Vorteil erwiesen. Wir haben etwa unser telemedizinisches Angebot vorangetrieben und konnten es deutlich schneller erweitern. Durch die Online-Sprechstunden konnten viele Patienten trotz Besuchsverbot mit ihrem Arzt sprechen. Man kann gar nicht oft genug betonen, wie wichtig das ist. Schließlich tragen wir nicht nur Verantwortung für COVID- 19-Betroffene. Wir haben das Institut für Künstliche Intelligenz gegründet und in Betrieb genommen. Unsere Zusammenarbeit mit der FOM Hochschule für Oekonomie & Management Essen konnten wir ebenfalls ausbauen. Im Zuge der Kooperation ist ein berufsbegleitender Studiengang „Pflege & Digitalisierung“ entstanden, erstmals in Deutschland. Insgesamt bin ich wirklich zufrieden damit, dass wir trotz der schwierigen Rahmenbedingungen auf unserem Weg zum Smart Hospital dank der großartigen und engagierten Arbeit unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder ein gutes Stück vorangekommen sind.
Viele Milliarden geben Bund und Länder ab 2021 für die Digitalisierung des Gesundheitswesens aus. Wie kann der Zukunftsfonds den Weg zu einer flächendeckenden Versorgungslandschaft mit Smart Hospitals ebnen?
Damit ist ein wichtiger Schritt getan und eine gute Basis für die weitere Digitalisierung geschaffen. Ich werte das aber mehr als eine Art Anschubfinanzierung. Aus meiner Sicht liegt der tatsächliche Investitionsbedarf deutlich höher. Entscheidend wird aber sein, ob die finanziellen Mittel nun tatsächlich in Digitalisierung, Vernetzung und Innovation investiert werden, statt in die Bewahrung tradierter Strukturen. Die Kliniklandschaft in Summe muss sich ändern, und das bedeutet explizit auch eine Neugestaltung der Krankenhauslandschaft. Dies ist übrigens ebenfalls eine weitere Lehre aus Corona: Es kann nicht mehr jeder alles machen, wir brauchen eine sinnvolle Konzentration von Gesundheitsdienstleistungen. Die Medizin mit ihren divergierenden Einflussgruppen ist mitunter leider eher versiert darin, Projekte zu verhindern und zu zerreden, statt sie aktiv und mit Hochdruck voranzutreiben. Ich hoffe, dass aus der Pandemie die richtigen Entscheidungen für eine moderne Gesundheitswirtschaft abgeleitet werden. Dafür müssen zweifellos auch Partikularinteressen überwunden werden.