Max Wiedemann über die Potenziale und hürden digitaler Healthcare-Innovationen
Welche wichtigsten Vorteile sehen Sie dank innovativer Ansätze im Gesundheitsmarkt?
Vor allem disruptive Innovationen leisten einen Beitrag zur Lösung bestehender und aufgrund des demografischen Wandels absehbarer Versorgungsprobleme und bilden langfristig die Grundlage, das Leistungsversprechen der GKV unter Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots weiterhin erfüllen zu können. Dabei geht es uns insbesondere darum, dass Versorgung verfügbarer i.S.v. einfacher, schneller bzw. flexibler wird, eine Verbesserung für die Menschen darstellt und sich positiv auf die Lebensqualität auswirkt oder Kosteneinsparungen bei mindestens gleichbleibender Qualität erreicht werden können.
Insbesondere die neuen Anstrengungen hinsichtlich „Digital Health“ sind für uns kein Selbstzweck und dürfen nicht als neuer, isolierter Versorgungsauftrag fehlinterpretiert werden. Sie müssen vielmehr der nachhaltigen Steigerung der Qualität und Wirtschaftlichkeit von Gesundheitsleistungen und damit den gemeinsamen Zielen der gesundheitlichen Solidargemeinschaft dienen.
Welches Interesse hat Ihre Organisation an solchen Lösungen?
Durch den Strukturwandel entstehen Versorgungsrisiken, besonders bei ländlicher Versorgung und Pflege. Weil die neuen Bundesländer früher von diesem Wandel betroffen waren, sind insbesondere die regionalen Krankenversicherungen im Osten der Republik als Vorreiter bei der aktiven Gestaltung dieses Wandels gefordert. Als regional tief verwurzelte Krankenversicherungen stehen die AOKs vor Ort zu ihrer Verantwortung und verspüren einen hohen Innovationsdruck, weil bisherige Lösungen an ihre Grenzen stoßen.
Um die künftigen Herausforderungen im Kontext des demografisch bedingten Strukturwandels nachhaltig zu meistern, müssen wir die Potenziale innovativer Lösungen konsequent nutzen, auch in Verbindung mit den Möglichkeiten im Zuge der Digitalisierung. Deshalb liegt uns viel daran, innovative Lösungen systematisch zu stärken und deren Skalierung in die Regelversorgung auf Grundlage von Evidenznachweisen voranzutreiben, um die Herausforderungen des Strukturwandels zu meistern. Eine höhere Durchlässigkeit von Innovationen ist möglich, wenn die Krankenkassen eine aktive Rolle bei der Förderung sinnvoller Innovationen übernehmen.
Welche Vorgaben gelten bislang für den Einsatz von Innovationen in der Regelversorgung, wie verlief der Prozess? Was ist/war daran unbefriedigend? (Haben Sie ggf. Beispiele aus Ihrer Organisation?)
Digital Health Innovationen haben es aus unterschiedlichen Gründen derzeit schwer, in die Versorgungsrealität integriert zu werden. Es ist von wesentlicher Bedeutung für Innovationen im Gesundheitsmarkt die Eintrittsbarrieren zu minimieren, ohne wesentliche Eckpfeiler, wie beispielsweise das Wirtschaftlichkeitsgebot, zu umgehen. Gerade digitale Gesundheits-Apps werden heute vornehmlich als Präventionsmaßnahme finanziert oder mit Selektivverträgen Versicherten zur Verfügung gestellt und erreichen darüber kaum nennenswerte Skalierungseffekte bis in die Regelversorgung. Die bestehenden Rechtsgrundlagen sind bisher nur bedingt für die zeitnahe Integration innovativer Lösungen in die Regelversorgung geeignet, da Prinzipien wie „gemeinsam und einheitlich“ sowie „Digital Health Innovation“ i. d. R. schwer in Einklang zu bringen sind.
Modellvorhaben nach § 63 SGB V und die besondere Versorgung nach § 140a SGB V hingegen haben hohe bürokratische und administrative Aufwände (Ausschreibung, Einschreibung von Versicherten und Leistungserbringern, Bereinigung der Regelversorgung etc.), welche sich nur in Verbindung mit einem deutlich veränderten Versorgungsauftrag und einer großen Anzahl an Teilnehmern rechtfertigen lassen. Gerade der Versorgungsauftrag ändert sich aber durch eine digitale Innovation nicht, sondern nur die Art bzw. der Kanal, wie die (bestehende) Versorgung erbracht bzw. unterstützt wird.
Wie wird diese Vorgehensweise neu aufgestellt? Wie bereiten Sie sich darauf vor?
Aktuell stellt sich oft die Frage, inwiefern Digital Health Innovationen einen Nutzen für die Patienten generieren. Diese können oftmals nicht schon zu Beginn ihrer Existenz einen vollständigen Nutzenbeweis vorlegen. Um den Nutzennachweis führen zu können, braucht es Erfahrungen aus der realen Anwendung. Vor diesem Henne-Ei-Problem stehen viele Digital Health Innovationen.
Das Gesundheitssystem muss sich öffnen für eine bessere Durchlässigkeit sinnvoller Innovationen. Dafür brauchen wir pragmatische, agile Evaluationsmethoden, die auch in der Lage sind, modulare, sich iterativ entwickelnde Innovationen valide zu bewerten. Hier setzen wir uns dafür ein, die bei innovativen Lösungen zunächst bestehende Nachweislücke systematisch geschlossen wird, indem die Evidenz iterativ, also stufenweise generiert wird. Das heißt: Neuen Lösungen von der Idee (Body of Evidenz) über Prototypen (Funktionalität, Stabilität, Usability), Evidenzstudien (Wirksamkeit, Qualität) hin zur Skalierung (Effektivität) und Integration/Implementierung & Verfügbarkeit in der Regelversorgung eine echte Chance im deutschen Gesundheitsmarkt einräumen.
Beim Thema Vergütung gilt für uns der Grundsatz „pay for performance“, also eine Vergütung entlang nachgewiesener, wirksamer Nutzung – die GKV darf nicht ausschließlich für „Downloads“ von Gesundheitsapps bezahlen.
Bitte nennen Sie Beispiele, wie durch den neuen Rahmen Patienten und Mitarbeiter im Gesundheitswesen nun rascher profitieren werden.
Hier drei konkrete Projekte, die wir im Moment mit externen Partnern vorantreiben, die wesentlich von der Weiterentwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen und einer Förderung des Zugangs von innovativen Lösungen zur Regelversorgung profitieren würden. Alle drei Lösungen brauchen regulatorischen Rückenwind, damit sie eine echte Chance bekommen im Versorgungsalltag flächendeckend anzukommen:
Telekonsil: Ein Projekt zur Verbesserung der haus- und fachärztlichen Versorgung in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen mittels telemedizinischer Unterstützung samt Technikpaket. In Leipzig haben wir in einem Pilotprojekt Hausärzte und Pflegeheime miteinander vernetzt, um vermeidbare physische Arztbesuche zu reduzieren und den Zugang zur hausärztlichen Betreuung in Pflegeheimen zu erleichtern.
Anvajo: Point-of-Care-Diagnosegerät für Vollblutschnelltests in der Arztpraxis mit dem Ziel rationale Antibiotikatherapien bei Patienten, insbesondere bei Kindern, zu ermöglichen. Die Tests ermöglichen eine just-in-time Differenzierung zwischen viraler und bakterieller Infektion und bilden damit eine Entscheidungshilfe für oder gegen eine Antibiotikatherapie. Dadurch werden Verdachtsdiagnosen, die aufgrund von Wartezeiten bei Labortests entstehen, reduziert. Über diesen Use-Case hinaus bestehen noch weitere Potentiale auf Basis der Technologie.
Mika: KI-basierte App für psycho-onkologisches Coaching und medizinisches Mentoring bei Krebserkrankungen mit Fokus auf Brust- und Darmkrebspatienten. Die App begleitet Patienten über den gesamten Krankheitsverlauf hinweg und hat die Erhöhung des individuellen Wohlbefindens zum Ziel. Gerade im ländlichen Raum werden so vorhandene Betreuungsbarrieren gesenkt und alternative, ortunabhängige Angebote geschaffen.
Wo sehen Sie weiterhin Hürden? Wie lassen sich diese überwinden?
Begrüßenswert ist, dass im DVG Regelungen angedacht sind, damit Krankenkassen die Gelegenheit gegeben wird, den Einsatz von Digital Health Innovationen grundsätzlich zu fördern. Digital Health Innovationen erfordern in der Regel eine initiale Investition – meist in infrastrukturelle Voraussetzungen. Häufig ist jedoch der Ort der Investition im Versorgungsprozess nicht gleich dem Ort, an dem der Nutzen entsteht. Daher ist es sinnvoll, den Krankenkassen die Möglichkeit zu eröffnen Investitionen zu tätigen, da diese in den meisten Fällen direkt (in Form von Einsparungen) oder indirekt (durch Verbesserung der Versorgung) einen „Return-on-Investment“ erhalten.
Welche Rolle spielen elektronische Patientendaten in dieser Angebotslandschaft, welche Voraussetzungen sind hier ausschlaggebend?
Voraussetzung für das Ankommen der digitalen Innovationen in der Regelversorgung ist auch eine Ausweitung der Möglichkeiten von Krankenkassen bei Einwilligung des Versicherten seine Daten zu verarbeiten oder zuverlässige Möglichkeiten zu finden, den Austausch zwischen Arzt und Patient zur gelebten Praxis zu machen. App-Anbieter scheitern an diesem Punkt oft, weil die BSI-konforme Übertragung von Gesundheitsdaten eine zu hohe Hürde für Startups darstellt. Krankenkassen hingegen, die sowohl innerhalb der Telematikinfrastruktur als auch außerhalb (Versicherten-App) operieren, könnten hier viel Nutzen stiften und zu einer besseren Skalierung beitragen.
ePA und eGA bilden die wesentliche Grundlage für eine vernetzte Zusammenarbeit aller Akteure im Gesundheitswesen.
Ohne Interoperabilität und gemeinsame Standards beim Datenaustausch fehlt das Fundament für ein gemeinsames Gesundheitsnetzwerk, das den Menschen ganzheitlich betrachtet und dessen Gesunderhaltung/Genesung in den Vordergrund stellt.