In der Vergangenheit wurden geschlechtsspezifische Unterschiede in der klinischen Forschung zu wenig berücksichtigt. Mittlerweile ist das Bewusstsein für das Thema vorhanden, sind Vorgaben strikter. Aber es gibt immer noch viel Luft nach oben, sagt Sachverständigenratsmitglied Prof. Dr. Petra Thürmann.
Interview: Hendrik Bensch
Frau Professorin Thürmann, Ende der 1990er-Jahre haben Sie sich bei Ihrer Antrittsvorlesung zur Habilitation mit Frauen in der klinischen Forschung beschäftigt und einige Missstände aufgezeigt – sowohl mit Blick auf die Patientinnen als auch mit Blick auf die Forscherinnen. Was hat Sie damals bei dem Thema umgetrieben?
„Es fiel in den 1990ern auf, dass bei einigen Erkrankungen deutlich mehr Männer an den Studien teilnahmen als Frauen. Unter anderem hatte eine Gruppe amerikanischer Internistinnen eine geschlechtergetrennte Analyse zu Studien über Bluthochdruck gemacht und herausgefunden: Frauen waren kaum untersucht worden. Zudem schienen sie nicht so sehr von den blutdrucksenkenden Medikamenten zu profitieren wie Männer. Daraufhin stellte man auch bei anderen Fachgebieten fest, dass Frauen weniger in Studien berücksichtigt worden waren.“
Prof. Dr. Petra Thürmann
Dabei sah das einige Jahrzehnte zuvor noch anders aus.
„Genau. In den 60er- und Anfang der 70er-Jahre waren in den Studien anteilsmäßig viele Frauen vertreten. Mit dem Contergan-Skandal hat sich das dramatisch gewandelt. Die Befürchtung war, dass es bei schwangeren Studienteilnehmerinnen zu Komplikationen kommt. Deswegen waren Frauen, die schwanger werden konnten, von Studien der Phase I und der frühen Phase II in der Regel ausgeschlossen. Erst viel später wurde dann vielen bewusst, dass dadurch wichtige Studieninformationen fehlten. Die Ereignisse in den 70ern haben also einerseits dazu geführt, dass mehr Sicherheit im Rahmen von Studien entstanden ist. Andererseits hat es auch zu einer Art Paternalismus geführt: Auch Frauen, die bei Studien mitmachen wollten und schon älter waren oder nur Partnerschaften mit Frauen hatten – und deshalb nicht schwanger werden konnten oder wollten – durften nicht an Studien teilnehmen.“
Im Zuge der Coronapandemie gab es neben sehr vielen Studien über das Virus selbst auch solche, die sich damit beschäftigten, wie geforscht wurde. Dabei wurde mitunter kritisiert, dass das Geschlecht bei zahlreichen Studien in der Frühphase der Pandemie nicht als erklärende Variable berücksichtigt wurde. Teilen Sie diese Kritik?
„Man muss das differenziert betrachten. Einerseits gibt es Beispiele für solche Studien. Und da kommen dann auch wieder Erfahrungen aus der Vergangenheit hoch: Dass etwa bei Studien zum Thema Brustkrebs jeder sofort an Frauen denkt, aber die Folgen von Viruserkrankungen als geschlechtsneutral angesehen wurden – und deshalb die Unterschiede nicht berücksichtigt wurden.
Andererseits ist es nicht immer ganz klar, ob in Studien nicht möglicherweise doch geschlechtsspezifisch untersucht wurde. Es kann gut sein, dass Autorinnen und Autoren Informationen zum Frauenanteil und geschlechtsspezifische Analysen in der Ausgangsversion ihres Papers bei einer Fachzeitschrift eingereicht haben. Möglicherweise sind diese Informationen dann aus Platzgründen nicht veröffentlicht worden – wobei das natürlich keine gute Begründung ist.
Man muss zudem anerkennen, dass die Behörden in der Pandemie schnell reagiert haben. Sobald erste Belege für leichte Unterschiede bei den Nebenwirkungen der Impfstoffe vorlagen, wurden schnell alters- und geschlechtsspezifische Empfehlungen ausgesprochen. Das hat es in diesem Tempo so noch nie gegeben.“
2004 wurde im deutschen Arzneimittelgesetz festgeschrieben, dass die vorgelegten Unterlagen zur klinischen Prüfung auch geeignet sein müssen, „den Nachweis der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit eines Arzneimittels einschließlich einer unterschiedlichen Wirkungsweise bei Frauen und Männern zu erbringen“. EU-weit ist es Pflicht, im Prüfplan zu begründen, wenn man ein Geschlecht oder eine Altersgruppe von Studien ausschließt oder diese unterrepräsentiert sind. Was hat sich ansonsten in der klinischen Forschung getan, seitdem die blinden Flecken zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden öffentlich wurden?
„Die Sensibilisierung für geschlechtsspezifische Unterschiede hat bei denjenigen, die Studien initiieren, deutlich zugenommen. Die Zulassungsbehörden achten stärker darauf. Da hat sich einiges getan. Und das gilt auch für die Fachinformationen für Ärzte und Apotheker, wenn ein neues Medikament verkauft wird. Es gibt kaum noch neue Fachinformationen ohne genaue Anmerkungen. Dort ist dann beispielsweise notiert, dass die Analysen keine Hinweise auf Unterschiede bei den Nebenwirkungen ergeben haben. Auch das hat sich also sichtbar gewandelt. Und dennoch gibt es noch Luft nach oben.“
Und zwar?
„In der EU gibt es keine strikte Vorgabe dazu, wie viele Frauen in Studien eingeschlossen werden müssen. Es heißt lediglich, dass es „ausreichend“ viele sein müssen – was auch immer das heißen mag. Das ist ein recht gummiartiger Spielraum, der vorgegeben wird.“
Was sollte sich also ändern?
Ich könnte mir vorstellen, dass man sich in der EU bei der Zulassung stärker an den USA orientiert. Etwa sollte für alle vorgelegten Studien individuell – und nicht für die Gesamtheit aller Studien gelten –, dass es ein geschlechtergerechtes und angemessenes Verhältnis im Vergleich zum Anteil in der Bevölkerung gibt.
Ich sehe aber auch die Fachgesellschaften in der Pflicht. Wenn ein Pharmahersteller ein Medikament zugelassen haben will, wird es dabei mit einem Placebo verglichen. Manchmal gibt es auch noch Studien, bei denen verglichen wird, ob das Medikament im Vergleich zu einem Standardmedikament genauso gut oder besser wirksam ist. Der wissenschaftliche Anspruch müsste aber anders aussehen. Man müsste untersuchen: Könnte es sein, dass das Medikament besser bei Männern oder besser bei Frauen wirkt? Man müsste also beispielsweise mehrere Antidepressiva bei Männern und Frauen vergleichen und dann nicht schauen: Ist Medikament A besser als B? Sondern, bei welchem Geschlecht wirkt es besser? Dazu gibt es bisher nur ganz wenige Studien. Das kann man von den Herstellern bei der Zulassung aber auch nicht verlangen. Dafür müssten Forschungsgelder bereitgestellt werden. Studien müssten zudem viel pragmatischer konzipiert werden.“
Was meinen Sie damit?
Bei den Zulassungsstudien gibt es sehr genaue Kriterien, die festlegen, wer ein- und ausgeschlossen wird. Dadurch fallen viele Patientinnen raus, etwa weil sie bestimmte Begleiterkrankungen haben. So soll verhindert werden, dass Ergebnisse verfälscht werden. Pragmatisch hieße hierbei: Man sollte beispielsweise bei Studien zu einem Blutdrucksenker auch Patientinnen und Patienten mit Begleiterkrankungen – wie Inkontinenz, leichten Depressionen oder beginnender Demenz – mit aufnehmen. Denn letztlich werden auch sie später mit dem Medikament behandelt werden.“
Wo sehen Sie zudem Handlungsbedarf?
„Nach Operationen bekommen viele Patienten auf der Intensivstation eine Infektion. Man hat mittlerweile festgestellt, dass es Erreger gibt, die unterschiedlich häufig bei Männern und Frauen auftreten. Aber welche Antibiotika daher bevorzugt Männern und welche Frauen gegeben werden sollten, ist in den gängigen Therapieschemata noch nicht enthalten.“
Was sind Ihrer Einschätzung nach weitere Ansatzpunkte, um Verbesserungen zu erzielen?
Es gibt ältere Untersuchungen, die zeigen, dass Ärztinnen im Vergleich zu Ärzten mehr Frauen in Studien einschließen. Und mir sind keine neueren Untersuchungen bekannt, die zeigen, dass sich daran etwas geändert hat. Da könnte man beispielsweise ansetzen. Auch mit Blick auf die Schulung der Studienärzte müsste man etwas tun. Es wird sehr viel Zeit darauf verwendet, Ärzte zu schulen, wie sie im Rahmen einer Studie vorgehen sollen. Warum gibt es aber keinen Zeitslot, in dem darauf hingewiesen wird: Es ist wichtig, auch Frauen mit einzuschließen! Und das auch, wenn es zum Beispiel um erhöhtes Cholesterin geht, von dem eher Männer betroffen sind. Auch das würde dazu beitragen, dass mehr Frauen in Studien eingeschlossen werden.“
Prof. Dr. Petra Thürmann ist seit November vergangenen Jahres Vizepräsidentin der Universität Witten/Herdecke für den Bereich Forschung. In Witten/Herdecke hat sie den Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie inne, zudem ist sie am Helios Universitätsklinikum Wuppertal Chefärztin, stellvertretende ärztliche Direktorin und verantwortet eine Vielzahl von Studien und Forschungsprojekten – häufig mit dem Schwerpunkt Arzneimittelsicherheit. Außerdem ist sie in zahlreichen nationalen und internationalen Gremien und Fachgesellschaften vertreten, wie etwa dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen der Bundesregierung.