Digital Upskilling: Wie Unternehmen die Qualifikationskrise meistern

Die COVID-19-Pandemie hat den Wandel in der Frage, wie und wo wir arbeiten, nur noch weiterbeschleunigt. Und sie zeigt vielen Unternehmen auf, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen den Fähigkeiten, über die ihre Mitarbeiter bereits verfügen, und denen, die für die Arbeit in der digitalen Welt unabdingbar sind. Es ist Zeit, über Upskilling zu sprechen.

Eine Einführung von Andreas Braun, New York, und Stefan Deges

Unternehmen stehen – so das Big Picture – vor einer Qualifikationskrise. Auf der einen Seite bedroht die Automatisierung, zum Beispiel in der Automobilindustrie, Arbeitsplätze. Viele Fähigkeiten, die in der Vergangenheit gut und wichtig waren, scheinen mit zunehmender Digitalisierung obsolet zu werden. Auf der anderen Seite gibt es schon heute einen gravierenden Mangel an qualifizierten Talenten mit Kenntnissen in den Bereichen künstliche Intelligenz, Robotik oder Internet der Dinge. 2018 kam eine Untersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Ergebnis, dass 46 Prozent aller Arbeitsplätze eine mindestens 50-prozentige Chance haben, verloren zu gehen oder sich stark zu verändern. Ebenfalls 2018 sagte das Weltwirtschaftsforum voraus, dass bis 2022 fast die Hälfte der weltweiten Erwerbsbevölkerung ihre derzeitigen Qualifikationen entweder erweitern oder ersetzen müssen. Und in einer aktuellen Erhebung von PwC zeigen sich 74 Prozent der befragten Topmanager besorgt über die mangelnde Verfügbarkeit von richtigen Fähigkeiten bei Neueinstellungen.

Bis dato gingen die Experten davon aus, dass der Anpassungsprozess graduell erfolgt, als eine Art schrittweiser, in Maßen steuerbarer, zumindest teilweise beeinflussbarer Prozess. Passend dazu entwickelte sich in den Wirtschaftswissenschaften ab etwa der Jahrtausendwende der Dynamic Capability-Ansatz. Dynamische Fähigkeiten – definiert als „die Fähigkeit des Unternehmens, interne und externe Kompetenzen zu integrieren, aufzubauen und neu zu konfigurieren, um auf sich schnell verändernde Umgebungen zu reagieren – werden dabei als Dreh- und Angelpunkt für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen gesehen. Doch für graduelle Anpassungen scheint die Zeit vorüber zu sein. Zumal neben den verheißungsvollen Neueinstellungen auch noch ein wachsendes Problem beim Bestandspersonal aus-zumachen ist. Burn-out sucht laut Weltgesundheitsorganisation immer mehr Manager heim, also ausgerechnet jene Spezies, die eigentlich den Mitarbeitern helfen sollte, chronischen Stress vom Arbeitsplatz fernzuhalten. Unverkennbare Folge: Internationalen Studien nach sind im Schnitt nur 15 Prozent der Beschäftigten wirklich engagiert; das bedeutet, sie sind in ihrer Arbeit und an ihrem Arbeitsplatz begeistert und mit ganzem Herzen bei der Sache.

Das Meinungsforschungsinstitut Gallup, das seit mehr als einem Jahrzehnt Unternehmen für ihre produktive Arbeitsplatzkultur auszeichnet, findet das bedrohlich. Engagierte Mitarbeiter führten zu erheblichen Geschäftsverbesserungen, von mehr Umsatz über positivere Kundenresonanz bis hin zu höherer Rentabilität. Erfolgreiche Firmen machen laut Gallup die Menschen zur Schlüsselkomponente ihrer Geschäftsstrategie, und sie schaffen eine Kultur, die auf die Bedürfnisse der neuen Belegschaft abgestimmt ist, die den Auftrag und Zweck, die Entwicklung und das Coaching berücksichtigt, die die Mitarbeiter für hohe Leistungen benötigen.

Nun aber zu Corona: Die COVID-19-Pandemie führt nicht nur vor Augen, wie verwundbar unser Wirtschaftssystem ist, sondern auch, wie schwierig der Anpassungsprozess an abrupte, tiefgreifende Veränderungen sein kann und wie groß schon heute die Qualifikationslücke ist, also der Unterschied zwischen dem, was Unternehmen in Zukunft brauchen, und dem, was die Mitarbeiter können. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, ihre Ressourcenbasis neu zu bewerten und möglichst schnell an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Vor diesem Hintergrund muss es schockieren, dass in der aktuell schwierigen Pandemielage ausgerechnet bei der Mitarbeiterentwicklung gerne der Rotstift angesetzt wird. Denn mit Blick auf die plötzlich überall geforderten digitalen Umgangsformen sollte Corona eigentlich für ein regelrechtes Investitionsfeuerwerk im Sinne des Digital Upskillings sorgen. Digital Upskilling – so vertraut der Terminus inzwischen klingen mag – zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Magazins gab es nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag dazu. An Treffern mangelt es bei einer entsprechenden Google-Suchanfrage gleichwohl nicht. Das häufigste Beispiel, auf das im Internet verwiesen wird, ist die ambitionierte Fortbildungsinitiative des Konsumgüter-Konzerns Henkel, die dessen HR-Director Lucas Kohlmann bereits im Frühjahr 2020 den „Transformation Leader“-Lesern darlegte (TL 02/2020).

Langsam bricht der Trend sich Bahn. Eine Onlineindustrie entsteht gerade, die Digital Upskilling in leicht konsumierbarer Form verspricht. Es sind wieder mal die amerikanischen Entrepreneure, die das rechte Gespür haben und vorangehen. Sie suggerieren auf schönsten Websites einen neuen Mindset per Knopfdruck. Künstliche Intelligenzen wissen angeblich, was der überforderte Arbeitnehmer zum digitalen Überleben braucht. Das wird natürlich nicht funktionieren, wenn es dem Unternehmen nicht beliebt, sich intensiv mit den Anforderungen und Zielsetzungen zu befassen. Ein Online-Upskilling-Automat ist immer höchstens so gut wie das Zielbild, das eine Personalabteilung für die Mitarbeiterentwicklung zeichnet.

Digital Upskilling darf daher nicht mit digitalen Spielereien verwechselt werden. Im Kern geht es um einen strategischen Prozess zum Erwerb und zum Aufbau von Fähigkeiten und Kompetenzen, die heute und in naher Zukunft für die digitale Transformation benötigt werden. Szenarien, die in jedem Mitarbeiter einen kleinen Data-Experten mit Sinn für Algorithmen, Business Intelligence und Cyberware sehen, schießen allerdings weit über das Ziel hinaus. Gefragt sind vor allem analytisches Denken und Innovation, aktives Lernen und Lernstrategien, Kreativitätstechniken, Originalität und Initiative, komplexe Problemlösungen und emotionale Intelligenz. Zwischen Mitarbeitern und Endgeräten entsteht ein nahezu symbiotisches Verhältnis. Office-Programme, Apps und Collaboration Tools sollen effektiv eingesetzt werden. Unternehmen, die ihre Belegschaft dabei unterstützen wollen, müssen sich ein konkretes Bild von deren digitalen Fähigkeiten im noch jungen dritten Jahrzehnt dieses Millenniums machen.

Europa hat sich den zweifelhaften Ruf erarbeitet, bei digitalen Zukunftsprojekten eher auf dem Bremspedal zu stehen – sei es in Sachen digitaler Infrastruktur, künstlicher Intelligenz oder Plattformökonomie. Nun droht die nächste Schleichpartie, und die betrifft nicht weniger als 225 Millionen Erwerbs-tätige der EU. Man werfe einen Blick nach Indien: Dort hat Premierminister Narendra Modi bereits 2018 eine Plattform namens „Future Skills“ ins Leben gerufen, die inzwischen prall gefüllt ist mit Lerninhalten aus aller Welt. Das sogenannte Lern-Ökosystem durchforstet das Internet nach qualitativ hochwertigen Lernangeboten und bündelt sie in leicht konsumierbaren, meist mobilen Formaten. Die Zukunft wird solch offenen Systemen gehören. Und den Unternehmen, die offen sind für solche Systeme.